Die Stärken und Schwächen der Deutschen bei den „Majors“
Welches Grand-Slam-Turnier können die deutschen Damen und Herren besonders gut und welches nicht? Die große Analyse von tennisnet.com.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
22.05.2015, 08:45 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel (Mitarbeit: Stefan Bergmann)
In einer gängigen These heißt es, dass es die deutschen Herren im Tennis besonders schnell mögen – vor allem wenn der Spieluntergrund grün ist. Wenn es auf die rote Asche geht, dann sehen die deutschen Herren oft rot. Stimmt es, dass die deutschen Herren besonders in Wimbledon groß auftrumpfen und bei den French Open lahme Enten sind? Und gilt das auch für die deutschen Damen? Zu welchem Grand-Slam-Turnier reisen die deutschen Spieler und Spielerinnen am liebsten?tennisnet.comwollte es genauer wissen und hat die letzten 30 Grand-Slam-Jahre bei den deutschen Herren und Damen untersucht. Hier ist die umfangreiche Analyse.
Herren
Punkteverteilung Grand Slams: Titel = 2000 Punkte, Finale = 1200 Punkte, Halbfinale = 720 Punkte, Viertelfinale = 360 Punkte, Achtelfinale = 180 Punkte, 3. Runde = 90 Punkte, 2. Runde = 45 Punkte, 1. Runde = 10 Punkte
Australian Open
Wenn es zu Saisonbeginn Melbourne um den ersten großen Titel des Jahres geht, dann kommen die deutschen Herren über die Statistenrolle nicht hinaus, zumindest in den letzten Jahren. Trauriger Höhepunkt war das Jahr 2004, als von sechs deutschen Startern nurFlorian Mayerdie zweite Runde erreichte. Doch die Australian Open boten auch viele herausragende Momente der deutschen Herren.So erreichte Rainer Schüttler, als „Roter Blitz“, im Jahr 2003 sensationell das Finale.Nicolas Kieferschaffte in „Down Under“ im Jahr 2006 seine einzige Halbfinalteilnahme bei einem „Major. FürTommy Haaswaren die Australian Open das beste Grand Slam. Dreimal (1999, 2002 und 2007) gelang ihm der Sprung in die Vorschlussrunde. Zudem ereignete sich in Melbourne Historisches. AlsBoris Beckerim Jahr 1991 das Finale gegen Ivan Lendl in vier Sätzen gewann, wurde er gleichzeitig die erste und bislang einzige deutsche Nummer eins im Herrentennis. Fünf Jahre später wiederholte Becker seinen Triumph bei den Australian Open – es war sein sechster und letzter Grand-Slam-Titel.
French Open
Jaja, die deutschen Herren und die rote Asche. Irgendwie will das nicht zusammenpassen. Das zieht sich nun schon über Jahrzehnte hinweg.Boris Becker hat trotz seiner fabelhaften Karriere das Kunststück vollbracht, kein einziges Turnier auf Sand zu gewinnen. Immerhin hat Becker bei den French Open dreimal das Halbfinale erreicht, zuletzt im Jahr 1991, wo sogar ein deutsches Endspiel möglich war, weil auchMichael Stichum den Finaleinzug spielte. Stich war schließlich im Jahr 1996 nah dran am French-Open-Titel, bekam es im Finale gegen Yevgeny Kafelnikov jedoch mit den Nerven zu tun. Ansonsten ist aus deutscher Sicht meist alles Asche auf der roten Asche in Paris. Im Jahr 2008 schieden sogar alle acht deutschen Herren in der ersten Runde aus. Der letzte deutsche Lichtblick in Roland Garros war Tommy Haas, der im Jahr 2013 das Viertelfinale erreichte. In den nächsten Jahren ruhen bei den French Open die deutschen Hoffnungen vermutlich aufAlexander Zverev, der bislang auf Sand seine besten Resultate erzielte.
Wimbledon
Während Sand und die deutschen Herren keine gute Kombination sind, ist es mit dem Rasen, vor allem mit dem in Wimbledon, komplett anders. Wenn es auf das grüne Geläuf geht, blühen die deutschen Spieler, sogar viele aus der zweiten Reihe, regelreicht auf. Wer erinnert sich noch anAlexander Radulescu, der im Jahr 1996 sensationell das Viertelfinale erreicht und seine Chance aufs Halbfinale mit einer tollen sportlichen Geste, für die er später einen Fairplay-Preis bekam, verbaute? Oder die sagenhaften Auftritte vonAlexander Popp, auch „Popeye“ genannt, dem 2000 und 2003 erst im Viertelfinale der Spinat ausging. Aus deustcher Sicht war Wimbledon oft eine Erfolgsgeschichte. Boris Becker stieg hier 1985 als 17-jähriger Leimener zum Weltstar auf und drückte mit drei Titeln und insgesamt sieben Finalteilnahmen dem Turnier seinen Stempel auf.Einmalig war das deutsche Finale im Jahr 1991, wo Michael Stich den haushohen Favoriten Becker an die Wand spielte. Sogar der Schiedsrichter war darüber so überrascht und verkündete Becker zunächst zum Sieger. Zu erwähnen sind auch die Jahre 2008 und 2009, als sich Rainer Schüttler und ein Jahr später Tommy Haas ins Halbfinale vorspielten. Aus deutscher Sicht kann man sich fast nur wünschen, dass jede Woche Wimbledon ist.
US Open
Schrill, bunt und laut geht es bei den US Open zu. Attribute, die man mit den meisten deutschen Herren nicht verbindet. Und daher ist es auch nicht allzu verwunderlich, dass die Deutschen in New York in den letzten Jahren nur selten für positive Schlagzeilen sorgten. Der Wahl-Amerikaner Tommy Haas fühlt sich bei den US Open wohl, scheiterte aber immer an der Hürde Viertelfinale – in den Jahren 2004, 2006 und 2007. Der letzte deutsche Finaleinzug in New York ist über 20 Jahre her, als Michael Stich im Jahr 1994 im Endspiel gegen Andre Agassi chancenlos war. Boris Beckers Triumph in Flushing Meadows im Jahr 1989 wäre nicht zustandegekommen,wenn ihn in der zweiten Runde gegen Derrick Rostagno nicht die Netzkante vor dem Aus bewahrt hätte. Apropos Becker: Ein weiterer Spieler mit den Initialen B. Becker wird auf Dauer mit den US Open verbunden sein, und zwar als „Kerl, der Bambi erlegte“.Benjamin Beckersorgte im Jahr 2006 in der dritten Runde dafür, dass Andre Agassi Lebewohl zum Profitennis sagte.
Fazit Herren
Punkte
Die These, dass die deutschen Herren bei den French Open oft nur Laufkundschaft sind und in Wimbledon zur Höchstform auflaufen, zeigt die Auswertung der letzten 30 Jahre deutlich. Mit insgesamt 30.755 erspielten Punkten in Wimbledon haben die deutschen Herren weit mehr als doppelt so viele Punkte geholt als bei den French Open. Woran liegt das? Zwar wird in der Sommersaison in Deutschland traditionell auf Sand gespielt, Hart- und vor allem Rasenplätze sind hierzulande in den meisten Vereinen eine riesengroße Ausnahme. Aber da das deutsche Wetter nur einen bestimmten Spielzeitraum auf Sand zulässt, verbringen die meisten deutschen Tennisspieler das Jahr überwiegend in der Halle, und hier gibt es viele schnelle Teppichböden, die dem Spiel auf Rasen doch sehr ähneln. Die Ausdehnung der Rasensaison um eine Woche sowie die Aufwertung des ATP-Turniers in Halle/Westfalen und das Umwandeln des ATP-Turniers in Stuttgart von Sand auf Rasen ist also aus deutscher Sicht eine goldrichtige Entscheidung gewesen.
Teilnehmer
Interessant ist auch der Blick auf die deutsche Teilnehmerzahl bei den Grand Slams in den letzten 30 Jahren. In Wimbledon stellten die Herren die meisten Spieler, wo sich auch immer wieder Leute aus der zweiten Reihe über die Qualifikation ins Hauptfeld spielten und dort auch für Überraschungen sorgten, zuletztTim Pütz. Bei den US Open hingegen ist die Teilnehmerzahl verglichen mit den anderen Grand Slams deutlich geringer. Vor allem zwischen den Jahren 1985 bis 1989 trat nur eine kleine deutsche Fraktion in Flushing Meadows an.
Damen
Punkteverteilung Grand Slams: Titel = 2000 Punkte, Finale = 1300 Punkte, Halbfinale = 780 Punkte, Viertelfinale = 430 Punkte, Achtelfinale = 240 Punkte, 3. Runde = 130 Punkte, 2. Runde = 70 Punkte, 1. Runde = 10 Punkte
Australian Open
Die Australian Open hatten vor 30 Jahren noch nicht den Stellenwert, den es heute genießt. Die lange Anreise nach Melbourne hielt einige Spieler und Spielerinnen davon ab, an den Start zu gehen. So bestand im Jahr 1985 das Feld nur aus 64 Spielerinnen, 1987 waren es 86 Starterinnen, ehe man 1988 mit dem Umzug in den Melbourne Park (ehemals Flinders Park) das Teilnehmerfeld auf die heute üblichen 128 Spielerinnen ausdehnte.Steffi Graflegte bei ihrer Australian-Open-Premiere im Jahr 1988den Grundstein für ihren Golden Slam. Die „Gräfin“ siegte viermal in „Down Under“.Anke Huberhatte 1996 ihre große Sternstunde, als sie das Endspiel erreichte.Claudia Kohde-Kilschschaffte es in Melbourne in den Jahren 1985, 1987 und 1988 in die Vorschlussrunde. Zwar fand in den letzten fünf Jahren die zweite Woche in Melbourne immer mit deutscher Damenbeteiligung statt, doch auf einen Halbfinaleinzug müssen wir seit 1998 warten.
French Open
Wer erinnert sich nicht gerne an das legendäre French-Open-Finale im Jahr 1999?Das Endspiel zwischen Steffi Graf und Martina Hingis war eines der besten und dramatischsten Damenmatches. Graf feierte in Roland Garros 1987 ihren ersten Grand-Slam-Titel mit einem Erfolg gegen Martina Navratilova und zwölf Jahre später mit dem Sieg über Hingis ihren 22. und letzten. Insgesamt neunmal stand Graf im Endspiel der French Open, von denen sie sechs gewann. In die Vorschlussrunde in Paris schafften es Claudia-Kohde Kilsch (1985) und Anke Huber (1993, Niederlage gegen Graf) sowie im VorjahrAndrea Petkovic.Sabine Hack(1994) undAnna-Lena Grönefeld(2006) erreichten bei den French Open mit dem Einzug ins Viertelfinale ihr bestes Grand-Slam-Resultat.
Wimbledon
Auch bei den deutschen Damen ist Wimbledon meist eine runde Sache. Steffi Graf feierte auf dem „Heiligen Rasen“ ihre größten Erfolge, gewann das Turnier siebenmal und stand zwei weitere Male im Endspiel.Sabine Lisickipflegt mit Wimbledon ebenfalls eine innige Liebesbeziehung. Bei ihren letzten fünf Starts erreichte Lisicki dreimal das Viertelfinale und einmal das Halbfinale. 2013 stand sie vor dem ganz großen Coup, doch im Endspiel gegen Marion Bartoli bekam sie ihre Nerven zu spät in den Griff.Angelique Kerberdurfte im Jahr 2012 am Finaleinzug schnuppern. Hat das Warten auf die nächste Wimbledonsiegerin bald ein Ende?
US Open
Die US Open sind für die deutschen Damen in der Vergangenheit kein gutes Pflaster gewesen, außer man heißt Steffi Graf. Die Ausnahmespielerin erreichte in New York achtmal das Finale, von denen sie fünf gewinnen konnte. Die einzige deutsche Spielerin, die neben Graf in den letzten 30 Jahren bei den US Open den Einzug ins Halbfinale schaffte, war Angelique Kerber. Der Kielerin gelang im Jahr 2011 der große Durchbruch, als kaum jemand mit ihr gerechnet hatte. Für Anker Huber, Claudia Kohde-Kilsch und Andrea Petkovic war das Erreichen des Viertelfinals das Optimum.
Fazit Damen
Punkte
Anders als die deutschen Herren kommen die deutschen Damen mit dem Sandboden bei den French Open gut zurecht. Denn das Grand-Slam-Turnier in Paris ist statistisch gesehen das erfolgreichste „Major“ der letzten 30 Jahre. Natürlich hat Steffi Graf mit ihren Erfolgen in Roland Garros daran maßgeblichen Anteil, aber in Wimbledon war die „Gräfin“ noch erfolgreicher. Hinzu kommen die guten Resultate von Sabine Lisicki in den letzten Jahren. Und dennoch ist Wimbledon bei den Damen nur auf Platz zwei gelandet. Im Vergleich zu den Herren, wo Wimbledon das Nonplusultra ist, ist die Diskrepanz bei den Damen zwischen den vier Grand-Slam-Turnieren nicht allzu groß.
Teilnehmerinnen
Mit 902 Teilnehmerinnen in den letzten 30 gab es in den Grand-Slam-Tableaus 159 Spielerinnen weniger als bei den Herren. Besonders akut war der Mangel an deutschen Spielerinnen nach dem Ende der Ära von Steffi Graf. Negativer Höhepunkt war das Wimbledonturnier 2004, wo nur drei deutsche Spielerinnen im Hauptfeld standen und alle in der ersten Runde ausschieden. Die Situation hat sich in den letzten Jahren jedoch verändert. Mittlerweile stehen bei einigen Grand Slams mehr deutsche Damen als Herren im Hauptfeld. Bemerkenswert ist auch, dass es in Wimbledon die wenigsten deutschen Starterinnen gab. Rechnet man das auf die Punktezahl pro Teilnehmerin runter, ist Wimbledon das erfolgreichste Grand-Slam-Turnier.
Damen und Herren
Punkte/Teilnehmer
Schaut man sich die Gesamtpunktezahl aller deutschen Spieler und Spielerinnen an, darf man Wimbledon beglückwünschen. Der „Heilige Rasen“ ist der Spielplatz, wo sich die Deutschen am wohlsten fühlen. Wimbledon hat in unserer 30-jährigen Grand-Slam-Statistik mit großem Abstand die Nase vorn. Elf Titel und sieben Finalteilnahmen sprechen eine deutliche Sprache. Quantität ist nicht immer mit Qualität gleichzusetzen. Bei den French Open gab es zwar in den letzten 30 Jahren 15 deutsche Starter mehr als in Wimbledon, dennoch liegt der Rasen-Klassiker bei der Gesamtpunktezahl deutlich voraus. Die mit Abstand wenigsten deutschen Starter haben die US Open vorzuweisen. Da in den letzten 15 Jahren die großen Ausreißer in New York fehlten, mit Ausnahme der Halbfinalteilnahme von Angelique Kerber, ist es nicht verwunderlich, dass die US Open in dieser Hinsicht das Schlusslicht bilden.
