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Jannik Sinner bei den French Open: Ein Virtuose mit riesigem Potenzial

Als Jannik Sinner am Sonntagnachmittag die Tür zum French Open-Viertelfinale aufgestoßen hatte, nahm er den Erfolg gegen Alexander Zverev fast beiläufig zur Kenntnis.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 06.10.2020, 09:20 Uhr

Jannik Sinner
© Getty Images
Jannik Sinner

Kurz hob er die Arme in die Höhe, gestattete sich ein scheues Lächeln, dann war das Thema Feiern auch schon wieder erledigt. Sinner, der 19-jährige Südtiroler aus dem Pustertal, ist wahrlich kein Typ für große Gesten oder überflüssige Showelemente. Lieber lässt Sinner den Schläger für sich sprechen, das Instrument, das er ebenso effizient wie virtuos beherrscht. Und mit dem er für immer mehr Aufsehen sorgt im Wanderzirkus der Tennisartisten.

Am Dienstag, wenn er sich auf dem Pariser Centre Court dem Seriensieger Rafael Nadal zum Duell in der Runde der letzten Acht stellen darf, werden die Blicke erst recht auf Supertalent Sinner gerichtet sein. Auf einen Burschen, der im letzten Jahr stürmisch in die erweiterte Weltspitze vorpreschte, die Nachwuchs-Weltmeisterschaft in Mailand als Wild Card-Teilnehmer souverän gewann – und dann wie so viele im Tourbetrieb vom Corona-Stillstand erst mal ausgebremst wurde. Nun aber, bei den French Open im Herbst 2020, ist Sinner wieder in voller Pracht am Werk. Der Sieg gegen Zverev war ein Meisterstück, auch wenn der Deutsche sichtlich unter einer Erkältung litt und nicht sein volles Potenzial ausschöpfen konnte. „Das Wichtigste war: Ich bin ganz ruhig und konzentriert geblieben. Ich will immer eine gewisse Ruhe ausstrahlen“, sagt Sinner. 

Sinner: Skifahrer, Fußballer - Tennisspieler

Tatsächlich gehört diese innere Balance, eine Ausgeglichenheit und Gelassenheit in allen Wechselfällen, zu den prägendsten Wesenszügen des sympathischen Emporkömmlings aus den Bergen. Sinners Coolness ist keinesfalls selbstverständlich, immerhin wird der Teenager schon seit zwei, drei Jahren als kommender Superstar und künftige Nummer eins der Branche gehandelt. „Wie er mit diesen Erwartungen umgeht, wie er auf dem Platz auftritt, ist einfach bemerkenswert“, sagt der ehemalige Weltranglisten-Erste Jim Courier.

Sinners Karriere folgte nicht den typischen Wegen, lange Zeit war sogar unklar, ob er sich überhaupt jemals dem Tennis verschreiben würde. Mit acht Jahren war Sinner italienischer Meister im Riesenslalom, er spielte in dieser Zeit auch noch leidenschaftlich Fußball. Aber dann entschied er sich doch für Tennis, „weil ich ganz allein meine Entscheidungen treffen wollte und musste. Und weil das Duell eins gegen eins mich mehr faszinierte.“

Piatti, der Meistertrainer, wollte Sinner zunächst erst gar nicht in seine Akademie in Ligurien aufnehmen, weil der junge Kerl nichts an Titeln oder anderen Meriten vorzuweisen hatte. Dann spielte er, auch auf Empfehlung des früheren Profis Claudio Pistolesi, doch vor – und war sofort Akademie-Schüler. „Hätte ich ihn abgewiesen, wäre es der Fehler meines Lebens gewesen. Keiner ist in seinem Alter so weit gewesen wie er jetzt“, sagt Piatti. Schnell arrangierte Piatti für seinen Spitzenschüler dann auch Sparringspartner-Arrangements, nicht zuletzt mit Branchenführer Djokovic. Im Trainingscenter bekam Sinner auch schnell seinen Spitznamen weg – man nannte ihn den „Roten Baron“, der Haarfarbe wegen. 

Sinner wie Federer? "Nur Gerede"

Sinner besticht inzwischen auch auf den größten Tennisbühnen durch seine Abgebrühtheit und eine schlichte Eleganz in seinem Auftritt. Er macht keine überflüssigen Bewegungen, keinen Schritt zu viel oder zu wenig. Es gibt keine Theatralik, kein irgendwie exzentrisches Gehabe. Alles ist flüssig, sauber, klar. Gegen Zverev nahm Sinner wie in fast allen seinen Spielen sofort die Angriffsposition ein, ganz so, als sei das ein Naturgesetz. Selbst wenn Sinner Aggressivität in die Schläge legt, wenn er mutig ans Netz vorrückt, folgt die Power immer dem Primat der Präzision. Nicht wenige in der Branche vergleichen ihn mit Roger Federer, er selbst schüttelt da den Kopf und sagt: „Das ist doch nur Gerede.“

Oft hat Sinner schon mit Nadal, dem Sandplatz-König, trainiert. Coach Piatti hatte die Treffen eingefädelt, damit sein Schützling aus nächster Nähe die Intensität und Leidenschaft des legendären Spaniers zu spüren bekäme. Im Wettkampf standen sie sich aber noch nie gegenüber, der Teenager und der zwölfmalige French Open-Champion. Sinner will keinen Respekt zeigen, er will furchtlos aufspielen. Aber eins ist ihm auch bewusst: „Rafa ist das Maß aller Dinge in Paris. Nichts ist schwerer, als ihn hier auf Sand zu schlagen.“

von Jörg Allmeroth

Dienstag
06.10.2020, 16:15 Uhr
zuletzt bearbeitet: 06.10.2020, 09:20 Uhr