Jürgen Melzer im Interview - "Ich liege mehr auf der Bank als ich am Platz stehe"

Als ehemaliger Top-10-Mann und Paris-Semifinalist zahlt Jürgen Melzer einen hohen Preis um auch mit 36 noch aktiv seiner großen Leidenschaft folgen zu können. Für die Karriere danach nimmt der Niederösterreicher unter anderem den Job des Daviscup-Captains ins Visier. Interview: Fritz Hutter (Sportmagazin).

von Fritz Hutter
zuletzt bearbeitet: 18.04.2018, 09:32 Uhr

Jürgen Melzer hat in Moskau die Österreicher zum Lächeln gebracht

tennisnet: Aus Schaden wird man ja angeblich klug. Konntest du von den in den letzten Jahren erlittenen "Schäden" an der Schulter und am Ellbogen irgendwie profitieren?

Jürgen Melzer: Tatsächlich habe ich extrem viel durchs Kommentieren gelernt, was ich ohne die Verletzungspausen ja nie gemacht hätte. Aus dieser Vogelperspektive kannst du um so viel besser analysieren. Und es relativiert sich alles. Mittlerweile bin ich einfach nur mehr froh, spielen zu können. Dadurch ist der Druck ganz ein anderer. Wenn ich daran denke, wie du unter Strom stehst, wenn, wie etwa bei Dominic Thiem, jede Woche verlangt ist, dass du Semifinale oder Finale spielst. Bei mir ist das jetzt ganz anderes. Es ist ein Genuss zu spielen und einige immer noch ärgern zu können.

tennisnet: Aber du strebst doch wieder an, drei Wochen im Monat zu spielen, oder?

Melzer: Durchaus, aber im Moment bin ich davon noch ein bisserl entfernt. Ich glaube, dass ich künftig einen 2:2-Rhythmus spielen muss, einen 3:1er-Rhythmus aber nicht mehr zusammenbringen werde.

tennisnet: Am letzten Davis-Cup-Wochenende warst du nicht der einzige erfolgreiche "Alte". In Valencia etwa haben sich die Herren Ferrer und Kohlschreiber ein sehenswertes Fünfsatzduell geliefert. Warum sind die reiferen Tennisstars von heute "jünger" als jene von früher?

Melzer: Weil professioneller gearbeitet wird. Viele Spieler reisen heute mit Physio und arbeiten einfach besser "mit ihrem Körper zusammen". Du hörst genauer drauf, und die Verletzungsprophylaxe ist viel wichtiger geworden. Und außerdem weißt du, dass selbst wenn ein unfassbares Jobangebot kommt, du das wahrscheinlich auch noch in drei Jahren machen kannst und genießt deshalb jeden noch verbleibenden Tag am Platz.

"Ich hätte drei Jahre meiner Karriere retten können"

tennisnet: Was ist der größte Unterschied zwischen dem Jürgen Melzer von heute und jenem von, sagen wir, 2012?

Melzer: Die Zielsetzung. 2012 habe ich noch Memphis gewonnen (Anm.: Finalsieg über Milos Raonic). Da war ich zwar schon am Rücken verletzt, hatte aber immer noch dieses Top-10- oder Top-15-Ziel. Ich habe sehr lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass mein Körper einfach nicht mehr so funktioniert wie vielleicht bis 2010. Und ab dem Zeitpunkt, wo ich das kapiert habe, sind leider die Verletzungen gekommen. Hätte ich jenen Arzt, der mir den Rücken mit dem Bandscheibenriss in der Lendenwirbelsäule schmerzfrei gemacht hat, früher gefunden, hätte ich drei Jahre meiner Karriere retten können. Aber im Nachhinein ist man bekanntlich immer gescheiter.

tennisnet: Gibt es rein tennistechnisch gesehen etwas, das du heute besser kannst als zu deiner Primetime unter den Top-10?

Melzer: 2016 habe ich in der Vorbereitung den kurzen Vorhand-Cross gelernt. Mit meinem damaligen Coach Jan Velthuis bin ich da 20, 30 Minuten vor und nach jedem Training ins Kleinfeld gestanden und hab den geübt. Jan meinte damals, das ist ein Ball, der extrem wichtig ist, den ich aber nicht habe. Bis dahin habe ich immer alles lang hinten ins Eck gepfeffert. Klar ist mein Kurz-Cross jetzt noch immer nicht wie der vom Federer, aber ich habe ihn zumindest drauf. Auch vollieren werd ich heute technisch sicher besser. Da hat mir der Fredrik Rosengren (Anm.: 2017 von März bis zur Ellbogen-OP Anfang Oktober Melzer-Coach) im Vorjahr noch beigebracht, die leichte Schleife beim Ausholen zum Vorhandvolley wegzulassen und damit weniger aus dem Handgelenk zu vollieren. Mit sowas kriegst du mich im Training immer noch.

tennisnet: Siehst du schlechter?

Melzer: Nein.

"Das ist die Rechnung für 20 Jahre Profitennis"

tennisnet: Wie läuft es beim Socken anziehen?

Melzer: Das konnte ich schon mit 31 nicht mehr richtig. Das liegt einfach am Rücken. Wo mit 22 manchmal zwei Minuten Armkreisen gereicht haben, wärme ich heute für jedes Training eine Stunde auf und sitz danach noch ewig am Radl und dehne aus. Wenn ich heute kalt einen Sprint anziehe, weiß ich nicht, was zuerst abreißt. Das ist die Rechnung für 20 Jahre Profitennis. Irgendwann wird einfach der immer größere Aufwand meine Karriere beenden.

tennisnet: Du bist nun seit einem Jahr Vater eines, wie man hört, bereits sehr agilen Sohnes. Auch für ihn willst du sicher fit sein und bleiben ...

Melzer:... genau deswegen spiele ich sicher nicht mehr so lange, dass ich im Rollstuhl runter vom Platz fahre. Das Leben danach wird einfach lässig. Schon jetzt geht mir das Herz auf, wenn der Kleine in der Früh aufsteht und er als Erstes zum Tennisschläger rennt und einen Ball herumrollt. Ich freue mich aber auf alles was kommt und es wär einfach blöd nichts davon mehr machen zu können, weil ich ein Jahr zu lange Tennis gespielt habe.

tennisnet: Hast du das Gefühl, noch etwas beweisen zu müssen?

Melzer: Nicht mehr. Vor allem macht mir Tennis, wie schon gesagt,noch immer sehr viel Freude - weil ich es einfach gut kann.

tennisnet: Verspürst du wirtschaftlichen Druck?

Melzer: Es ist nicht so, dass ich nie wieder etwas machen muss, aber ich hoffe, dass ich mir einmal aussuchen kann, was ich mache. Ich wollte mir einmal ein schönes Haus bauen und auch dafür habe ich Tennis gespielt. Diesen Traum konnten meine Frau (Anm.: Ex-Schwimmerin Fabienne Nadarajah) und ich uns nun erfüllen, und ich freu drauf, wenn wir Ende August einziehen können. Aber ich bin kein materieller Typ. Ich brauche immer noch nicht das teuerste Auto und 37 Uhren, sondern es reicht mir, wenn ich mit dem Kleinen irgendwo reingehen kann und einfach einen Pulli für ihn kaufe, wenn er uns taugt. Auch wenn mein Tennis im Moment natürlich ein Minusgeschäft ist, verspüre ich am Platz keine Geldsorgen.

tennisnet: Ist nix müssen und alles können das Coolste?

Melzer: Natürlich ist es geil, wenn ich als Joker zum Davis Cup nach Russland mitfahr' und g'schwind zwei Punkte mach. Ich hätt aber auch im Einzel eine auf den Schädel kriegen und im Doppel einen Megatopfen zusammenspielen können. Das hat sich nach der wirklich hervorragenden Trainingswoche zwar nicht abgezeichnet, ist aber auch schon vorgekommen - gedacht habe ich diesmal keine Sekunde daran. Mittlerweile kann ich eine gute Trainingsleistung aber besser einschätzen und auch im Match direkter umsetzen. Aber verlieren kannst du natürlich immer noch ...

tennisnet: Wer, findest du, hat sich aus deiner Generation neben Roger Feder am besten gehalten?

Melzer: Ich würde sagen der "Feli" (Anm.: Feliciano Lopez, 36). Mit seiner Spielanlage muss er nicht so viel rennen. Er serviert wie ein Stier und oft 70, 75 Prozent erste Aufschläge, spielt mit seinem Slice sehr ökonomisch und hat einen unglaublichen Körper. Extrem ist für mich auch David Ferrer, aber es wäre für mich das Schlimmste jeden Tag schon beim Aufstehen zu wissen, ich kann nur gewinnen, wenn ich den Gegner umrenne. Dazu hat er jetzt zwei Jahre einen Hänger gehabt und sich einen Schlägerwechsel eingebildet aber jetzt wird es wieder. Eigentlich unglaublich ...

tennisnet: Tommy Haas meinte, dass seine schweren Schulterverletzungen seine Karriere verlängert haben, weil sich in der Pause der Rest des Körpers erholen konnte. Empfindest du das ähnlich?

Melzer: Sein Tennisalter war einfach niedriger als sein biologisches. Die Rehas haben sicher geholfen etwa Knie und Hüften zu schonen. Bei mir war das die letzten drei Jahre sicher ähnlich aber ich habe davor einfach schon so viel Einzel und Doppel gespielt, dass irgendwann in näherer Zukunft der Ofen aus ist. Und so sage ich heute, dass einfach nix mehr passieren darf, sonst ist es aus.

"Nicht mehr genug Muße für einen Neustart"

tennisnet: Mit Einzel?

Melzer: Eher überhaupt. Ich glaub, dass ich dann nicht mehr genug Muße für einen weiteren Neustart hätte. Eben auch in Hinblick aufs Leben danach.

tennisnet: Roger Federer hingegen scheint sein Tennisalter auszureizen.

Melzer: Der weiß heut einfach ganz genau, was ihm gut tut. Trotzdem war ich sehr überrascht, dass er heuer die Sandplatzsaison doch wieder auslässt. Zuerst hat es ja geheißen, dass er sie spielt. Aber weiß halt, dass er Paris nicht gewinnen kann.

tennisnet: Fix nicht?

Melzer: Meiner Meinung nach nicht. Da sind einfach mittlerweile zu viele unterwegs, die ihn da ärgern können. Aber wenn du praktisch jedes Turnier gewinnst, bei dem du mitspielst, kannst du eine Sandplatzsaison wahrscheinlich leichter auslassen.

tennisnet: Bei seiner Niederlage gegen del Potro heuer in Indian Wells hat der Außerirdische aber gar nicht so cool wie üblich gewirkt sondern geradezu menschlich.

Melzer: Da habe ich ihn zum ersten Mal wieder hadern gesehen. Er hat geschimpft und sich mit dem Umpire angelegt.

tennisnet: Noch einmal zu deinem Comeback. War es tatsächlich das letzte?

Melzer: Definitiv. Ich mache das jetzt zum dritten Mal, brauche mein drittes Protected Ranking. Zweimal Schulter, einmal Ellbogen. Ich hätte den Nerv nicht mehr. Der Aufwand, um so zu spielen, wie ich es jetzt tue ist einfach zu groß. Mittlerweile liege ich mehr auf der Therapiebank als ich am Platz stehe und habe im Prinzip gar keine Freizeit mehr.

"Jan Velthuis wäre wieder perfekt"

tennisnet: Wie geht es weiter?

Melzer: Quali in Barcelona, Quali in München, wo ich hoffe, mit Philipp Petzschner eine Wildcard für das Doppelhauptfeld zu bekommen. Mal sehen, ob die so nett sind und uns eine geben. Dann werde ich noch ein Turnier vor Paris spielen und dann eben die Quali für Roland Garros. Fakt ist, dass ich bald ein Einzelmatch gewinnen muss, sonst fliege ich aus der Weltrangliste.

tennisnet: Wie reist du jetzt?

Melzer: Beim Challenger vorm Davis Cup in Marbella war ich mit Family und meinem aktuellen Trainer Thomas Strengberger. Nach Barcelona werde ich aber wohl alleine fahren. Unser Sohn hat grad laufen gelernt und ist überall dran. Das wäre für die Fabienne einfach zu anstrengend, weil sie selber Profi genug war, um mir auf der Tour alles abnehmen zu wollen und ich im Gegenzug kaum mithelfen kann. Ob Thomas ab und an mitfahren kann, steht noch nicht fest, und Physios gibt es ohnehin bei den Turnieren. So gesehen wäre heute Jan Velthuis wieder perfekt, da er Trainer und Physio ist. Als Deutscher U21-Chefcoach ist er aber unabkömmlich. Leider.

tennisnet: Wildcards werden heute also auch einem ehemaligen Paris-Semifinalisten nicht mehr nachgeschmissen?

Melzer: Absolut nicht. Wir haben jetzt erst für den Challenger in Tunis angefragt und eine Absage kassiert.

tennisnet: Wer ist wir?

Melzer: Mein langjähriger Manager Ronnie Leitgeb und ich. Er hilft mir nach wie vor. Zuletzt gab es halt nur wenig zu managen.

tennisnet: Siehst du dich in Zukunft auch als Non-Playing-Captain des österreichischen Davis-Cup-Teams?

Melzer: Wenn sie mich nehmen, werde ich das sicher einmal machen. Ich glaube aber, dass man vielleicht ein, zwei Jahre braucht, um nach dem Ende der sportlichen Karriere ein wenig Abstand zu gewinnen. Wenn es sich früher ergibt, dann macht man sowas wahrscheinlich aber auch früher. Ich habe mir erst jetzt in Moskau am ersten Tag gedacht, irgendwann da drinnen sitzen wäre schon lässig. Das ist eines der wenigen Tenniswochenenden, wo du als Trainer so richtig eingreifen kannst.

tennisnet: Ein richtiger Brotjob wäre Davis-Cup-Captain aber nicht. Was käme dafür in Frage?

Melzer: Ich könnte mir schon vorstellen, meinem Bruder eine Zeit lang zu helfen oder ich versuche als Coach einen anderen Spieler wirklich weit nach vorne zu bringen. Aber das ist halt wieder mit sehr viel reisen verbunden und muss von der Familie abgesegnet sein und nur eine Möglichkeit. Die andere wäre, dass du was im Verband machst. Ich glaube, dass dort mit dem neuen Präsidenten gute Weichen gestellt worden sind, dass ich mir vorstellen kann, da was zu tun.

tennisnet: Der Bereich "Tennis" ist also einigermaßen fix?

Melzer: Ja. Da kenne ich mich eindeutig am besten aus. Ich habe zwar Matura gemacht aber sonst nur eine Ausbildung mit der gelben Filzkugel gemacht und ich fände es schade, wenn dieses Wissen irgendwo versumpert.

von Fritz Hutter

Mittwoch
18.04.2018, 09:32 Uhr