"Das deutsche Tennis ist überorganisiert"

Der ehemalige Fed-Cup-Chef vermisst bei vielen Spielern die Liebe zu ihrem Sport und prangert an, dass der Nachwuchs zu wenig in den Klubs aktiv ist.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 04.11.2010, 13:19 Uhr

Von Erik Trümpler

Das deutsche Tennis hat große Zeiten erlebt. Boris Becker, Stefanie Graf und Michael Stich haben der Sportart zu einer nie geahnten Popularität verholfen und Millionen von Menschen an den Fernseher gefesselt. Doch die Erfolge liegen schon länger zurück. 1999 gewann Graf bei den French Open den letzten Grand-Slam-Titel für Deutschland. Seither erreichte nur Rainer Schüttler das Finale bei einem der vier großen Majorturniere – 2003 bei den Australian Open. tennisnet.com hat bei den Protagonisten von damals und heute nachgefragt wie der ehemals erfolgreichste Tennisverband der Welt die titellose Zeit überstehen und wieder zurück zu alter Stärke finden kann. Die Interviewserie in loser Reihenfolge startet heute mit dem ehemaligen Fed-Cup-Teamchef Klaus Hofsäß, der die Mannschaft zweimal zum Titel führte. Der 61-Jährige betreibt heute eine Tennisschule auf Marbella.

Herr Hofsäß, was läuft gut im deutschen Tennis?

Wir haben viele gute Tennisspieler. Philipp Kohlschreiber und Philipp Petzschner sind zwei außergewöhnliche Tennisspieler. Wenn ich sehe, wie Kohlschreiber dem Nadal Paroli bietet oder Petzschner das Spiel variieren kann, begeistert mich das. Auch die Entwicklung von Julian Reister und Tobias Kamke stimmt mich positiv.

Trotzdem packt es bisher keiner in die Top Ten.

Dafür muss man wirklich alles aus sich rausholen. Man muss sich etwa fragen, ob man mit einem Toptrainer wie Tony Roche, der natürlich viel Geld kostet, reist oder lieber mit einem Kumpel, weil man sich mit dem so gut versteht. Man muss die Liebe zum Sport haben, muss ein Kämpfer sein, alles investieren.

Ein Kohlschreiber wird Ihnen sagen, dass er fünf Stunden am
Tag trainiert.

Sicherlich arbeiten die Jungs hart. Aber Steffi Graf hat für Tennis gelebt. Ich habe sie Ende der siebziger Jahre kennengelernt, sie seitdem begleitet. Da hat man gesehen, sie ist bereit, alles für das Tennis zu tun. Ich glaube, bei den deutschen Spielern ist da noch Potenzial. Da sind noch zehn bis zwanzig Plätze drin.

Sehen Sie einen deutschen Top-Ten-Kandidaten?

Ich erinnere mich gerne an Patrick Rafter. Das war jahrelang ein netter Spieler, stand um die 40 in der Welt. Das hat dem irgendwann nicht mehr gereicht, und er ist abgegangen wie eine Rakete. Das ist es, was ich meine. Bei den Damen ist es möglicherweise noch einfacher, wenn man sieht, dass eine Wozniacki ohne Grand-Slam-Sieg ganz oben steht.

In Deutschland spielt Tennis medial fast keine Rolle mehr.
Woran liegt das?

Man muss sich das mal überlegen: Bei den öffentlich-rechtlichen liegt Tennis bei unter einem Prozent Sendeanteil. Etwa 20 Sportarten werden häufiger gezeigt. Aber Anfang der achtziger Jahre war das ähnlich. Wenn ich an das Jahr 1982 zurückdenke, dann waren bei den Grand-Slam-Turnieren vielleicht eine Handvoll deutsche Journalisten. Mit Becker begann der Hype, dann waren es selbst bei den US Open 40. Das liegt allein am Erfolg der Spieler.

Was muss passieren?

Es reicht nicht, dass man ein Turnier in Peking gewinnt oder irgendwo ins Finale kommt. Das interessiert die Leute nicht. Es müssen Erfolge bei den Grand-Slam-Turnieren oder im Davis Cup her. Es liegt allein an den Protagonisten. Da kann man den Medien überhaupt keinen Vorwurf machen. Dass das Interesse dann da ist, hat man doch gesehen, als Rainer Schüttler im Finale der Australian Open stand (2003, Anm. d. Red.). Da war das Fernsehen sofort da.

Gibt es noch andere Möglichkeiten, das Interesse zu wecken?

Vom DTB müsste mehr kommen. Wie von den Sportlern müssen auch die Funktionäre ihre Liebe zum Sport vermitteln. Es müssen Ideen kommen, die auf Pressekonferenzen vermittelt werden. Dann steht Tennis wieder in der Zeitung. Die Kontakte müssen gepflegt werden. Außerdem muss Tennis von anderen Sportarten lernen. In den 80ern war Uli Hoeneß mal in Wimbledon, um sich die VIP-Bereiche anzusehen. Heute sollte das Tennis vom Fußball lernen. Unter anderem bei der Trainingskonzeption, die dort sehr ausgereift ist.

Was ist mit den großen Stars von gestern?

Wenn man Becker oder Graf einbinden könnte, wäre das ein großer Gewinn. Michael Stich macht ein bisschen was am Rothenbaum, aber sonst ist da nicht viel.

Wie sehen Sie die Nachwuchsförderung in Deutschland?

Für mich ist das deutsche Tennis überorganisiert. Zwölfjährige bekommen schon fünfmal in der Woche Kreistraining, Bezirkstraining oder Verbandstraining. Da wird unheimlich viel Geld verbrannt.

Was ist daran auszusetzen?

Der Klub als produktive Zelle wird viel zu wenig genutzt. Wenn ich sehe, was hier in Spanien los ist. Da spielen Schwächere mit Stärkeren, da spielen Kinder, weil sie Lust drauf haben. Da heißt es nicht: Der eine Junge ist im Verbandstraining und darf deshalb nicht mit Schwächeren spielen. Viele Klubs in Deutschland sind doch tot. Dabei gibt es viele engagierte Leute. Und schaut man auf die großen deutschen Spieler, sind die doch einen ganz individuellen Weg gegangen.

Wann sollte das Fördertraining beginnen?

Ein- bis zweimal pro Woche muss bei Zwölfjährigen reichen. Ansonsten ist Eigeninitiative gefordert. Mit 16 kann es dann richtig losgehen.

Welche Aufgabe kommt den Verbandstrainern zu?

Die Verbandstrainer stehen unter enormem Druck, müssen früh Erfolge vorweisen. Das ist nicht förderlich für einen technischen und taktischen Lernprozess. Wenn ich das heute sehe, spielen die Kids immer gleich. Egal, ob es 4:1 oder 5:5 steht. Da wird einfach immer draufgehauen. So geht es nicht.

Foto: Jürgen Hasenkopf/Collage: tennisnet.com

von tennisnet.com

Donnerstag
04.11.2010, 13:19 Uhr