Michael Stich und sein Wimbledonsieg: „Ich trat nicht an, um Boris vom Sockel zu stoßen“
Vor genau 30 Jahren gewann Michael Stich sensationell das deutsche Wimbledonfinale gegen Boris Becker. Das große Bohei im Nachhinein verstehen beide nicht so ganz.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
05.07.2021, 12:49 Uhr

Der 7. Juli 1991 war eigentlich der Tag, an dem einzig und allein Michael Stich im Mittelpunkt der deutschen Tenniswelt hätte stehen sollen. Er hatte an jenem Tag vor nunmehr 30 Jahren gerade das Wimbledon-Endspiel gewonnen, aber in den Abendstunden nach dem klaren Sieg sprach man wieder einmal aufgeregt über den Verlierer – einen gewissen Boris Becker.
Abends am Finalsonntag entfaltete sich ein denkwürdiges Nachspiel zum Pokalduell auf der Bühne des Deutschen Hauses in Wimbledon, dem Kontakttreff von Profis, Funktionären und Journalisten. Eine Talkrunde mit Stich, dem Champion, war anberaumt, doch wer an der Tür klingelte, bekam Becker zu Gesicht. Er stand in Badelatschen da, bat herein wie ein Butler – und später, zur Plauderrunde mit Stich, servierte der Verlierer des Tages auch noch Schnittchen vom Silbertablett. „Ich hab´ nur mitgekriegt, dass er bei der Feier da war“, sagt Stich, „aber ich habe nicht weiter drüber nachgedacht. Mir war alles egal. Ich wäre auch glücklich gewesen, wenn ich mit dem Pokal einsam auf einem Berg gesessen hätte.“
Becker: Schlimmste Niederlage war 1990 gegen Edberg
Stich war der Erste und Beste an diesem 7. Juli 1991. Aber eben nicht der Mann, um den sich alles drehte, dem die Aufmerksamkeit galt. Vieles blieb letztlich auch nach dem Tag, an dem die sportlichen Machtverhältnisse hierzulande erstmals so richtig auf dem Kopf standen, so wie immer – Stich war der Mann, der keine Schlagzeilen, keine Show, sondern im Kern nur seinen Sport brauchte. Und Becker brauchte die Seite 1-Abdrucke wie die Motten das Licht, er hasste und liebte seine Popularität hin und her. Und wie hatte er den Tag erlebt, der ihm in Deutschland die Vormacht stahl – übrigens exakt sechs Jahre nach dem Triumph als 17-jähriger Himmelsstürmer auf dem heiligen Centre Court-Rasen? „Dieser Tag“, sagt er, „hat in Deutschland und für die Deutschen eine größere Rolle gespielt als für mich. Zwei Deutsche im Endspiel, das war eine große Story.“ Aber er habe nun mal in sieben Wimbledonfinals gestanden, und die schlimmste Niederlage sei die 1990 gegen Stefan Edberg gewesen, „da holte ich einen 0:2-Satzrückstand auf, führte im fünften Satz. Und verlor.“
Was sich auch nicht änderte nach diesem 7. Juli 1991, war das Verhältnis der beiden Weltklassespieler zueinander. Oder besser gesagt: Das Nicht-Verhältnis. Stich und Becker hatten sich auch fortan nicht mehr zu sagen, sie waren weder dicke Freunde noch erbitterte Feinde. Oft redeten sie über den anderen, aber miteinander sprachen sie selten. Man kann es Stich sogar abnehmen, wenn er über diesen Tag sagte: „Ich bin wirklich nicht angetreten, um Boris von irgendeinem Sockel zu stoßen. Ich wollte meine Klasse zeigen, ein Match gewinnen. So wie gegen andere Gegner auch.“ Dass er nur einmal Wimbledon gewann, blieb ein echter Makel für einen Mann wie Stich, einen perfekten, begnadeten Rasenspieler. „Ein Sieg ist besser als kein Sieg“, sagt Stich. 1993 allerdings sei er als Gewinner des Vorbereitungsturniers im Queens-Club nach Wimbledon gekommen und habe gedacht, „ihr könnt alle die Taschen packen und heimfahren.“ Was passierte, war allerdings dies: Er verlor im Viertelfinale gegen Becker.
Gemeinsame Sache machten sie nur selten
Stich und Becker: Zweimal fanden sie sich in den Jahren, die dem Endspiel in Wimbledon folgten, zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung zusammen. Das erste Mal, als sie bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona im Doppel antraten und Gold gewannen. Und 1995, als sie Seite an Seite den Davis Cup holen wollten und dramatisch im Halbfinale gegen Russland scheiterten – Stich vergab in der entscheidenden Partie sage und schreibe neun Matchbälle. Das größte Davis-Cup-Match mit deutscher Beteiligung, die Finalpartie gegen die USA mit Pete Sampras und Andre Agassi, sie fand nie statt. In Moskau standen der Leimener und der Elmshorner dann auch zum letzten Mal zusammen auf einem Tennisplatz.
Stich trat wie Becker 1997 zurück, beide machten ihre Absichten in Wimbledon binnen 48 Stunden publik (Becker allerdings kehrte dann 1999 noch einmal für eine Comeback zurück). Viele Jahre versuchten sich beide Championspieler an Chefrollen im deutschen Tennis-Nationalteam, doch die alte Davis-Cup-Herrlichkeit war nicht mehr herbei zu zaubern. Teamchef Stich scheiterte genau wie Teamchef Becker an der nächsten, äußerst launischen Erbengeneration um Kiefer und Haas. Kurze Abtecher auf die sogenannte Senior Tour, als Alte Herren in kurzen Hosen, unternahmen sie auch – ohne allzu große Begeisterung allerdings. Und schließlich waren sie auch beide am Hamburger Rothenbaum aktiv, als Turniermacher, die Deutschlands großen Traditionswettbewerb vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit retten wollten.
Becker ist bis heute nie müde geworden, die Öffentlichkeit in den verschiedensten Eigenschaften und Rollen zu suchen. Er war in den letzten Tagen auch wieder in Wimbledon unterwegs - als Begleiter einer neuen Herzensdame einmal mehr das gefundene Fressen für die bunten Blätter. Und Stich? Der Sieger des 7. Juli 1991, den der All England Lawn Tennis Club zum Jubiläum eingeladen hatte, verzichtete auf die Reise. Es sei nicht angeraten, den Trip in diesen Pandemiezeiten zu unternehmen, sagte Stich, der Mann, der als Unternehmer in vielen Gesundheitsprojekten engagiert ist. Das große Feiern und Erinnern ist sowieso nicht sein Ding: „Ich lebe nicht in der Vergangenheit.“