Die irre Geschichte des Victor Estrella

Victor Estrella ist im 34. Lebensjahr am Höhepunkt angelangt. Auf dem Weg dorthin durchschritt er unglaubliche Tiefpunkte.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 05.03.2014, 13:59 Uhr

Schon oft hat tennisnet.com an dieser Stelle beschrieben, wie hart und steinig der Weg nach oben als Tennisprofi denn wirklich ist und wie viele Entbehrungen dafür auf sich genommen werden müssen. Kaum einer weiß das besser als Victor Estrella. Für diesen könnten sich die jahrzehntelangen Mühen spät, aber doch noch ausgezahlt haben: Im stolzen Tennisalter von 33 Jahren hat der Mann aus der Dominikanischen Republik am Montag erstmals den Sprung unter die Top 100 der Welt geschafft und sich auf Platz 99 im ATP-Ranking eingereiht.

Karriere schon beendet gehabt

Zu verdanken hat Estrella dies dem dritten Challenger-Titel in seiner Karriere. Am Sonntag schlug er im Finale von Salinas (Ecuador) den Argentinier Andrea Collarini mit 6:3, 6:4 und fixierte damit zuvor besagten Meilenstein: „Das ist das erste Mal, dass ich unter die Top 100 einsteige, und das ist ein weiterer Grund, diesen Sieg zu feiern. Es ist ein fantastischer Monat gewesen, ohne jegliche Zweifel der beste Moment in meiner gesamten Profikarriere. Salinas hat einen Platz in meinem Herzen für alles, das es mir gegeben hat", zeigte er sich darauf laut www.tennisworldusa.org gerührt.

Dass der Jubel von Estrella ganz besonders überschwänglich ausfällt, ist nur verständlich, hat er doch eine mehr als aufsehenerregende Hintergrundgeschichte. Bereits 2002 war er einst ins Profilager gewechselt und mühte sich auf der Future-Tour ab. Nachdem die Erfolge zunächst zu wünschen übrig ließen, beendete er für einige Jahre sogar schon die Karriere und arbeitete in seinem Heimatland als Tennistrainer. Doch nachdem er Mitte des Jahres 2006 nach Miami zog, um dort zu trainieren, gab er sich noch einmal eine zweite Chance als Profi.

Spielen um die Weiterreise

Der neuerliche Versuch lief besser an und brachte im Sommer 2008 den ersten ganz großen Höhepunkt, als sich Estrella beim ATP-Masters-1000-Turnier in Cincinnati recht spontan in die Qualifikation einschrieb - und diese auf Anhieb überstand. Erst im Hauptfeld unterlag er der damaligen Nummer zwölf der Welt, Fernando Verdasco, mit dem respektablen Ergebnis von 3:6, 5:7. „Es ist das erste Mal, dass jemand aus der Dominikanischen Republik ein ATP-Turnier spielt. Ich bin sehr glücklich, hier zu sein", berichtete er zu dieser Zeit stolz.

„Tennis ist wohl der fünftgrößte Sport in der Dominikanischen", wusste Estrella. „Man spielt als Junior, einige gehen aufs College, aber ich wollte immer auf der ATP-Tour spielen." Doch damit waren für ihn in der Heimat immense finanzielle Hürden verbunden: „Eines der größten Probleme in der Dominikanischen Republik ist, dass wir kein Geld für Reisen haben. Ich habe deshalb für vier Jahre aufgehört, weil ich es mir nicht leisten konnte, zu reisen. Sogar heute", verriet Estrella damals in Cincinnati 2008, „kommt es vor, dass ich, wenn ich bei einem Challenger früh verliere, nicht imstande bin, zum nächsten Turnier zu reisen."

Kein Geld für neue Saiten

Wie „angenehm" es ist, unter Umständen wie diesen zu spielen, und was einem da wohl alles durch den Kopf gehen mag, das kann man sich im vom Wohlstand verwöhnten Mitteleuropa wohl nur ganz schwer vorstellen. Estrella beschrieb es so: „Ich muss ein Spiel gewinnen, um weiterreisen zu können. Das kann eine Menge Druck auf einen ausüben. Als ich in Lexington(ein Challenger, damals vor Cincinnati ausgetragen; Anmerkung)das Viertelfinale erreicht hatte, bekam ich 1400 Dollar, also hieß das, dass ich weiterspielen konnte. Hin und wieder kann einem der Dominikanische Verband ein wenig aushelfen."

Estrella musste wahrlich an allen Ecken und Enden sparen. Wann immer die Unterkunft bei einem Turnier nicht inkludiert und es möglich war, versuchte er, bei einer örtlichen Familie unterzukommen und auf Hotels zu verzichten. Nicht allzu stolz sei er drauf, mit Greyhound-Bussen(billiges, aber verlässliches Transportmittel einer US-Langstreckenbus-Gesellschaft; Anmerkung)zum nächsten Turnier zu reisen. Doch eines der krassesten Handicaps, mit denen sich Estrella damals herumschlug: Er konnte nicht einmal sein Racket so oft frisch bespannen lassen, wie er es wollte. Also ließ er das Spanngewicht auf 45 Pfund, umgerechnet 20,41 Kilo, heruntersetzen, um den Saitenverschleiß zu reduzieren.

Die Tür zur ATP-Tour ist geöffnet

Doch nun könnte Estrella, mit seinem unglaublichen und vorbildhaften Durchhaltevermögen, nach zwölf Jahren als Profi die härtesten Zeiten hinter sich gelassen haben. Der Triumph von Salinas brachte ihm nicht nur immerhin 5750 Dollar an Siegesprämie, sondern öffnet ihm die Tür zum großen Geld auf der ATP-Tour. Bei zahlreichen ATP-World-Tour-250-Turnieren ist ihm als Top-100-Spieler wohl ein Platz im Hauptfeld garantiert - dort, wo eine Niederlage in der ersten Runde oftmals fast so viel Geld einbringt, wie der hart erkämpfte Titelgewinn von letzter Woche in Salinas.

Doch nicht nur das: Auch in den Genuss der noch weit lukrativeren Antrittsgelder in Grand-Slam-Hauptfeldern könnte Estrella schon sehr bald kommen. Seine Chancen auf die direkte Qualifikation für die French Open in Paris stehen gut. Schon seit den US Open 2008 war er immer wieder in den Vorausscheidungen der vier größten Turniere der Welt dabei gewesen, nun hat er den Weg raus auf andere Art gefunden. Der nächste ganz große Meilenstein eines Spielers aus der Dominikanischen Republik, der steht wohl unmittelbar bevor. Doch solche zu setzen, das ist Estrella schon gewohnt...

von tennisnet.com

Mittwoch
05.03.2014, 13:59 Uhr