Nach Federer und Wawrinka: Ist Tennis in der Schweiz tot?
Roger Federer und Stan Wawrinka haben die Schweiz jahrzehntelang an der Tennis-Weltspitze der Herren vertreten. Gegenwärtig herrscht jedoch Flaute bei den großen Titeln. Ex-Profi Michel Kratochvil erklärt, warum das kein Grund zur Resignation ist.
von Isabella Walser-Bürgler
zuletzt bearbeitet:
19.09.2025, 20:34 Uhr

Nach insgesamt 23 Grand-Slam-Titeln durch Roger Federer und Stan Wawrinka ist der Schweizer Tennishimmel deutlich wolkiger geworden. Seit Federers Triumph bei den Australian Open 2018 warten die Fans auf den nächsten großen Coup. Zwar setzten Jerome Kym und Leandro Riedi bei den US Open Achtungszeichen, doch Dominic Stricker kämpft weiter damit, seine frühere Lockerheit wiederzufinden. Der ehemalige Schweizer Tennisprofi Michel Kratochvil sieht ihn als Ausnahme-Talent, das aber den medialen Erwartungen zu früh ausgesetzt wurde und nun Struktur und einen passenden Coach brauche, um den Anschluss an die Spitze wiederherzustellen.
Junge Hoffnungsträger unter Druck
Auch Kym und Riedi stehen laut Kratochvil an einem Wendepunkt: Ihre jüngsten Erfolge brachten ihnen größere Aufmerksamkeit und damit auch mehr Erwartungsdruck. Bei Kym war das zuletzt im Davis Cup sichtbar, als er gegen einen Außenseiter aus Indien überraschend verlor und dabei mental wie körperlich ausgelaugt wirkte. Kratochvil kennt beide gut und lobt, dass sie sich vom medialen Hype nicht anstecken lassen und konsequent an ihren täglichen Fortschritten arbeiten. Das Umfeld spiele hier eine entscheidende Rolle: Während Kym mit Markus Hipfl einen erfahrenen Trainer an seiner Seite hat, stützt Riedi sich auf sein stabiles, bodenständiges Elternhaus.
Neue Generation in den Startlöchern
Neben Kym, Riedi und Stricker hebt Kratochvil vor allem Henry Bernet hervor. Der 18-jährige Basler erreichte als erster Schweizer überhaupt das Juniorenfinale der Australian Open und gilt als die vielversprechendste Nachwuchshoffnung des Landes. Doch Kratochvil bremst: In der Schweiz gab es traditionell nie eine große Zahl an Top-Talenten, sondern immer nur einzelne herausragende Spieler. Gerade deshalb brauche es gezielte Förderung, um deren Potenzial voll auszuschöpfen.
Strukturelle Hürden und finanzielle Engpässe
Genau hier sieht Kratochvil die größten Defizite. Die Talentförderung sei zersplittert, der finanzielle Aufwand enorm und es fehle an zentralisierten Leistungszentren. Während in Ländern wie Tschechien jedes Jahr Dutzende Nachwuchsspieler kostenlose Förderung und Unterkünfte erhalten, gebe es in der Schweiz über alle Jahrgänge hinweg nur eine Handvoll solcher Plätze. Vieles hänge vom privaten Umfeld und den finanziellen Möglichkeiten der Familien ab. Mit seiner Stiftung “BENAS” versucht Kratochvil, diese Lücke wenigstens punktuell zu schließen.
Breite Basis, ungenutzte Synergien
Mit über 600.000 aktiven Spielerinnen und Spielern ist die Schweiz eines der tennisbegeistertsten Länder Europas. Dennoch reiche diese breite Basis nicht automatisch für neue Weltstars. Kratochvil fordert mehr Zusammenarbeit zwischen Clubs, Trainern und Verbänden, um Kosten zu teilen und Trainingsgruppen zu bündeln. Trotz der aktuellen Durststrecke glaubt er an die Zukunft: Mit Talenten wie Stricker, Kym, Riedi und Bernet sowie besseren Strukturen könne die Schweiz auch in den kommenden Jahren wieder eine verstärkte Rolle auf der großen Bühne spielen.
