Spiel, Satz, Sympathie - Teil 2: Die Moralfrage – Warum Fairness für Fans genauso zählt wie ein Ass
Unsere Werte entscheiden, ob wir Spieler lieben oder verachten – und unsere Gefühle färben jedes Urteil.
von Stefan Bergmann
zuletzt bearbeitet:
24.08.2025, 15:25 Uhr

Wie kann es sein, dass Roger Federer für die einen der Inbegriff von Eleganz und Sportsgeist ist, während andere ihn für distanziert und langweilig halten? Oder dass John McEnroe und Nick Kyrgios von manchen als erfrischend ehrlich gefeiert, von anderen aber als respektlose Pausenclowns verurteilt werden? Tennis ist nicht nur Sport, sondern auch ein Charakterdrama – und wir alle interpretieren diese Charaktere anders. Was für die einen pure Leidenschaft ist, wirkt für andere wie fehlende Disziplin. In unserer dreiteiligen Serie versuchen wir, den psychologischen Phänomenen, die dahinter liegen, auf den Grund zu gehen.
Teil 2: Die Moralfrage
Tennis ist nicht nur ein sportlicher Wettkampf, sondern auch ein Schaufenster für Verhalten. Wir sehen nicht nur, wie ein Spieler schlägt, sondern auch, wie er reagiert, wenn er einen Punkt verliert, wie er mit Gegnern umgeht, und ob er dem Publikum Respekt zollt. Diese Eindrücke messen wir unbewusst an unseren eigenen Maßstäben von richtig und falsch – das nennt man moralische Bewertung. Wer Wert auf Respekt, Disziplin und Selbstbeherrschung legt, findet in Rafael Nadal oder Carlos Alcaraz perfekte Vorbilder. Sie gelten als höflich, konzentriert und fair – selbst in hitzigen Momenten. Wer dagegen Emotionen und Unberechenbarkeit liebt, wird eher zu Spielern wie Nick Kyrgios oder John McEnroe tendieren, deren Ausraster genauso legendär sind wie ihre spielerischen Fähigkeiten.
Wenn Gefühle Fakten überstrahlen
Hier kommt die sogenannte affektive Heuristik ins Spiel – ein psychologischer Begriff dafür, dass unsere Gefühle gegenüber einer Person unser Urteil über ihr Verhalten stark beeinflussen. Wenn wir jemanden mögen, sehen wir selbst sein Fehlverhalten milder. Ein Schlägerwurf von McEnroe war für seine Fans Ausdruck von Leidenschaft und Kampfgeist. Für seine Kritiker war es schlicht schlechtes Benehmen. Die Handlung bleibt objektiv dieselbe – der Unterschied liegt allein in der emotionalen Linse, durch die wir sie betrachten.
Ein Ball ins Publikum – zwei Geschichten
Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist Terence Atmane, der bei den diesjährigen French Open aus Frust einen Ball ins Publikum schlug. Für manche war das ein klarer Verstoß gegen die sportliche Etikette – gefährlich, unsportlich und völlig unangebracht. Andere erklärten es als hitzige Reaktion eines jungen Spielers, der sich in einer emotionalen Ausnahmesituation befand. Hier zeigt sich, wie stark Sympathie oder Antipathie schon im Vorfeld unsere Interpretation prägt.
Warum Moralfragen so polarisieren
Die Bewertung von Fairness und Respekt ist immer auch ein Spiegel unserer eigenen Werte. Wer glaubt, dass Emotionen zum Sport dazugehören, interpretiert Regelverstöße oft als Ausdruck von Authentizität. Wer dagegen strenge Etikette erwartet, sieht dieselben Szenen als respektlos. Diese Unterschiede führen zu extrem gegensätzlichen Urteilen – und genau das macht Diskussionen über Spieler so leidenschaftlich und interessant.
Im Tennis zählt also nicht nur die Schlagtechnik. Für viele Fans ist entscheidend, ob ein Spieler sich so verhält, wie sie es selbst tun würden – oder wie sie es sich wünschen. Unsere eigenen Wertvorstellungen und Gefühle formen das Bild, das wir von den Profis haben. Am Ende sind es nicht nur die Punkte auf der Anzeigetafel, die über Sympathie oder Ablehnung entscheiden, sondern die Frage, ob ein Spieler in unser moralisches Weltbild passt oder nicht.
Nächste Woche folgt Teil 3 unserer Artikelserie mit dem Titel: „Der Rebell und der Gentleman – Warum Gegensätze die größten Tennisdramen schreiben“.
