Spiel, Satz, Sympathie - Teil 3: Der Rebell und der Gentleman – Warum Gegensätze die größten Tennisdramen schreiben
Hinter jedem Match steckt eine Geschichte – und wir entscheiden, welchen Helden wir sehen wollen.
von Stefan Bergmann
zuletzt bearbeitet:
02.09.2025, 04:18 Uhr

Wie kann es sein, dass Roger Federer für die einen der Inbegriff von Eleganz und Sportsgeist ist, während andere ihn für distanziert und langweilig halten? Oder dass John McEnroe und Nick Kyrgios von manchen als erfrischend ehrlich gefeiert, von anderen aber als respektlose Pausenclowns verurteilt werden? Tennis ist nicht nur Sport, sondern auch ein Charakterdrama – und wir alle interpretieren diese Charaktere anders. Was für die einen pure Leidenschaft ist, wirkt für andere wie fehlende Disziplin. In unserer dreiteiligen Serie versuchen wir, den psychologischen Phänomenen, die dahinter liegen, auf den Grund zu gehen.
Teil 3: Der Rebell und der Gentleman
Tennis ist mehr als nur Aufschläge, Grundlinienduelle und Netzangriffe. Es ist eine Bühne, auf der Persönlichkeiten aufeinandertreffen – und wir lieben es, wenn diese Persönlichkeiten eine klare Rolle spielen. Psychologen nennen das Attribution: Wir ordnen Verhalten bestimmten Eigenschaften oder Geschichten zu. Aus einer Serie von Handlungen formen wir ein Narrativ. Nick Kyrgios wird so von seinen Fans als missverstandenes Genie gesehen, das sich den starren Regeln des Tennis-Zirkus nicht unterordnet. Seine Kritiker hingegen sehen in ihm einen unprofessionellen Spieler, der sein Talent verschwendet.
John McEnroe bekam in den 80ern das Etikett „Enfant terrible“ – eine Rolle, die ihn bis heute begleitet. Roger Federer dagegen wurde zum „perfekten Gentleman“, der für Eleganz, Fairness und Selbstkontrolle steht. Ob diese Zuschreibungen immer die ganze Wahrheit abbilden, ist zweitrangig – für unsere Wahrnehmung zählen sie wie Fakten.
Authentizität vs. Vorbildrolle
Das zweite entscheidende Element ist das Bedürfnis nach Authentizität. Manche Zuschauer fühlen sich von Spielern angezogen, die sich nichts vorschreiben lassen und auch mal gegen die Erwartungen handeln. Für sie ist ein Wutausbruch kein Makel, sondern ein Beweis, dass da ein echter Mensch auf dem Platz steht. Andere Fans bevorzugen Spieler, die als Vorbilder taugen – diszipliniert, respektvoll, in jeder Situation unter Kontrolle. Nadal und Alcaraz sind Paradebeispiele für diese Kategorie: immer fair, selbst nach Niederlagen wertschätzend gegenüber dem Gegner.
Klassiker: “Gut” gegen „Böse“
Diese Gegensätze machen Matches besonders spannend. Wenn der „Bad Boy“ gegen den „Braven“ spielt, hat das eine ganz eigene Dynamik. McEnroe vs. Borg war in den 80ern nicht nur ein Duell zweier Ausnahmespieler – es war das Aufeinandertreffen von Chaos und Coolness. Im modernen Tennis sehen wir eine ähnliche Spannung, wenn Kyrgios gegen Federer in Wimbledon antritt: auf der einen Seite der unberechenbare Showman, auf der anderen der disziplinierte Kämpfer - und das auf der klassischsten Bühne, die der Tennissport zu bieten hat. Für viele Zuschauer wird der Ausgang solcher Spiele nicht nur auf der Punktetafel entschieden, sondern auch im „moralischen Scoreboard“ im Kopf.
Warum wir so ticken
Diese Rollenbilder befriedigen unterschiedliche emotionale Bedürfnisse. Der Rebell verkörpert den Wunsch nach Freiheit, Selbstbestimmung und dem Mut, Regeln zu brechen. Der Gentleman steht für Sicherheit, Respekt und Berechenbarkeit. In einer Einzelsportart wie Tennis treten diese Charakterzüge besonders klar zutage, weil die Spieler völlig allein im Rampenlicht stehen. Ohne Teamkollegen, die das Bild verwässern, sind sie Projektionsflächen für das, was wir lieben – oder ablehnen.
Tennis lebt also nicht nur von Ballwechseln, sondern auch von den Geschichten, die wir in ihnen sehen. Ob wir den Rebell oder den Gentleman anfeuern, sagt oft mehr über uns selbst aus als über den Spieler. Wir suchen auf dem Platz Bestätigung für unsere eigenen Haltungen – und genau deshalb wird es auch in Zukunft immer beide geben müssen: den, der Regeln bricht, und den, der sie verkörpert.
