Tenniscoach Sascha Nensel im Interview: „Man braucht das Vertrauen seines Spielers“

Sascha Nensel, ehemaliger Coach von Nicolas Kiefer und Julia Görges, im tennisnet-Gespräch über Unterschiede zwischen Damen- und Herrentraining, die Philosophie von Günter Bresnik und die Zukunft des Tennis.

von Florian Goosmann
zuletzt bearbeitet: 08.03.2019, 14:07 Uhr

Sascha Nensel
© Sascha Nensel
Sascha Nensel

Sascha Nensel, 48, ist seit 16 Jahren auf der ATP- und WTA-Tour als Coach unterwegs. Er trainierte unter anderem Nicolas Kiefer, den er bis ins Halbfinale der Australian Open 2006 führte, außerdem Julia Görges, Andrea Petkovic, Petra Martic, Dusan Lajovic und Tobias Kamke. Nensel ist Gesellschafter und Initiator der Nensel-Akademie in Peine (www.nensel-academy.com), die ihr Hauptaugenmerk auf eine langfristige sportliche Ausbildung von Jugendlichen sowie Training und Betreuung von Profispielern legt.

Herr Nensel, was ist die größte Veränderung im Tennis und im Tennistraining in den letzten Jahren?

Die Intensität ist höher geworden. Es geht immer mehr darum, dass man über mehrere Stunden auf einem Niveau spielen kann. Darauf lege ich im Training auch viel Wert: Effektivität von Beginn bis zum Ende! Früher war es im Match einfacher, Punkte zu gewinnen, mittlerweile sind alle Spieler zäh. Dementsprechend wichtig ist es, sich diese Intensität auch im Training anzueignen.

Von älteren Spielern hört man immer wieder, dass sie früher zwar mehr trainiert haben, heute aber Qualität vor Quantität stellen – zumal auch das Training außerhalb des Platzes mehr geworden ist. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?

Absolut. Die Zeit auf dem Platz muss man heute optimal nutzen. Letztlich geht es darum, die Matchlänge auch im Training abzubilden. Zu schauen, dass in dieser Zeit der Arm schnell ist, die Beine schnell bleiben. Und bei älteren Spielern ist es wichtig, den Körper zu schonen und verletzungsfrei zu halten. Zumal die taktischen Spielzüge bei älteren Spielern drin sind. Die wissen, was sie tun. Auch in engen Situationen.

Sie sind selbst ehemaliger Profi und im Trainerbereich als Coach von Nicolas Kiefer bekannt geworden. Was ist Ihnen aus der Zeit mit ihm besonders hängengeblieben?

„Kiwi“ war sehr professionell, jedes Training, jede Einheit war genau geplant. Das hat mich geprägt, diese Disziplin habe ich angenommen. „Kiwi“ hat viel gefordert von seinen Trainern, weil er immer besser werden wollte. Und er hatte ein Wahnsinnspotenzial!

Gab es sowas wie einen schönsten Moment für Sie als Trainer?

Das Highlight mit „Kiwi“ war natürlich die Halbfinalteilnahme bei den Australian Open 2006, dort hat er im Halbfinale gegen Roger Federer verloren. Siege wie im Viertelfinale gegen Sebastien Grosjean, die vergisst man nicht. Und im Anschluss mit Jule Görges der Sieg beim Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart 2011.

Ist es ein großer Unterschied, ob man im Herren- oder Damenbereich tätig ist?

Mittlerweile ist das Damentennis in der Breite eines Grand-Slam-Feldes wesentlich besser geworden. Früher sind viel mehr gesetzte Spielerinnen einfach in die zweite Woche spaziert, heute muss eine gesetzte Spielerin ab Runde eins verdammt aufpassen, dass sie die nächste Runde erreicht. Für die Damen ist es jedoch oft schwieriger, Niederlagen zu verdauen. Die Männer ärgern sich natürlich auch, aber es geht bald zur Tagesordnung zurück, die Stimmung ist schnell wieder gut. Für mich ist letztlich entscheidend, dass ich das Potenzial sehe, die Perspektive. Wenn ich mit einem Profispieler oder einer Profispielerin arbeite, möchte ich, dass er oder sie bei einem Grand-Slam-Turnier weit kommen und die besten Leute schlagen kann. Dann hat man eine Vision, ein Ziel. Da ist es mir egal, ob Mann oder Frau. Das Projekt muss stimmen.

Angelique Kerber hat sich im Vorjahr von Wim Fissette getrennt, vor Kurzem nun Naomi Osaka von Sascha Bajin – beides kam von außen betrachtet sehr überraschend, weil der Erfolg da war.

Im Damenbereich wird, glaube ich, schon mehr gewechselt. Dort geht es emotionaler zu. Wenn man mal nicht einer Meinung ist oder ein falsches Wort sagt, ist es unheimlich schwierig, das wieder zu kitten. Männer sprechen sich schneller aus. Aber auch die Schnelllebigkeit des Geschäfts spielt eine Rolle. Wenn etwas nicht sofort funktioniert, wird es ganz schwer. Bei den Herren ist mehr Zeit da, man arbeitet längerfristig auf etwas hin.

Wie ist das Verhältnis unter den Trainern auf der Tour: Schaut man sich bei anderen etwas ab – speziell von den Coaches der Topspieler?

Ich spreche oft mit Leuten, die schon lange dabei sind. Mit Bob Brett zum Beispiel. Auch Günter Bresnik kennt mich noch als Jugendspieler. Sein Projekt mit Dominic Thiem finde ich super. Bresnik verfolgt seinen Weg und lässt sich nicht reinreden – der zieht sein Ding durch. Das muss man als Trainer machen. Mit dem einen Spieler passt es, mit dem anderen vielleicht nicht. Aber man muss seine Identität behalten, und das tut er.

Boris Becker sagt immer wieder: Tennis entwickelt sich alle 18 Monate neu. Wo sehen Sie noch Potenzial nach oben: Wird Tennis noch athletischer? Wie spielt der Profi in 10 oder 15 Jahren?

Ich glaube, dass es noch schneller wird. Das Material kann sich noch mal verändern. Und die ein oder andere Spielart könnte wiederkommen. Zum Beispiel die Serve-and-Volley-Spieler, aktuell kann man die an einer Hand abzählen. Aber wenn man Serve-and-Volley im Jugendalter mehr trainiert, eine gute Raumaufteilung lernt und auch den Wunsch hat, nach vorne zu kommen… Die Dominanz von den Spaniern und Südamerikanern ist von der Grundlinie so hoch, dass man sie teils gar nicht anders schlagen kann.

Ist Serve-and-Volley etwas, was Sie schon mit Ihren Schützlingen üben – auch „auf Sicht“ gesehen?

Wir erstellen immer ein Spielerprofil, wenn die Kids zu uns in die Akademie kommen. Wir schauen: Was ist das für ein Spielertyp, was kann er gut, wie groß ist er, wie groß wird er. Das ist ein langfristiger Prozess. Wenn ich weiß: Der Junge wird 1,90 Meter groß und ist ein Schlaks, dann wird er keiner, der drei Meter hinter der Grundlinie steht und die Bälle ausgräbt. Obwohl die Jugendlichen anfangs so auftreten, weil sie Jugendtennis spielen, keine Fehler machen und so Matches gewinnen wollen. Aber es ist ein wichtiger Punkt, frühzeitig zu erkennen, wo der Weg hingeht, und dass man dann individuell am Spielertypen arbeitet.

Den Eltern eine solche „Vision“ zu vermitteln, auch wenn erst mal Spiele verloren gehen, könnte aber schwierig sein. Günter Bresnik hat zwar mit Dominic Thiem gezeigt, wie es geht, auch Thiem war in seiner Jugend ein „Bringer“. Allerdings haben nicht alle Eltern die Geduld, das mitzumachen.

Das ist ein großer Punkt bei uns in der Akademie. Wir sprechen vorab mit den Eltern, zeigen ihnen unseren Plan mit den Jüngeren. Und versuchen zu vermitteln, dass es eine langfristige Geschichte wird. Vor Bresnik und Thiem habe ich riesengroßen Respekt. Günter hatte von Anfang an die Hand drauf. Wenn man nach Ergebnissen geht und es wichtiger ist, eine Bezirksmeisterschaft zu gewinnen, verliert man schnell das Ziel aus den Augen. Man braucht das Vertrauen des Spielers und der Eltern, um in Ruhe zu arbeiten.

Wie lange benötigt man, einen eigenen Spielstil zu entwickeln?

Wenn man über fünf oder sechs Jahre an solchen Sachen arbeitet, macht das einen großen Unterschied. Der Spieler muss aber an dieses Spiel glauben. Es ist doch so: Man behauptet ja immer, dass viele Spanier gleich spielen. Aber die trainieren eben genau ihr Spiel von der Pike auf, das ist die Mentalität! In Deutschland ist es oft so, dass die Spieler technisch super ausgebildet sind und alles können, aber nichts so richtig – mal überspitzt formuliert. Es sieht alles schön aus, aber es ist kein Spielplan da. Und der ist wichtig. Bei einem Spanier weißt du: Wenn der Ball auf die Vorhand kommt, dann rumst es. In Spanien deckt man 75 Prozent des Platzes mit der Vorhand ab, das lernt man so ab der Jugend – und das macht stark.

Die neue ITF World Tennis Tour steht zurzeit arg in der Kritik, viele Spieler beklagen mangelnde Spielmöglichkeiten, auch für Junioren ist es schwieriger, den Sprung zu schaffen. Ist das ein Thema in Ihrer Akademie?

Auf jeden Fall, wir haben viele Spieler, die Future- und Challengerturniere spielen. Ich finde das System sehr unglücklich. Der Sport lebt davon, dass viele ihn ausüben können. Und wenn man kein überdurchschnittlich gutes Jugend-Ranking hat, kommt man nicht in die Turniere. Das kann nicht Sinn der Sache sein. Die Ansätze waren vielleicht gut gemeint, aber das ganze System muss überdacht werden – und ich bin mir relativ sicher, dass wir im nächsten Jahr Änderungen erleben. Weil das so nicht durchzuziehen ist.

Bei den deutschen Damen scheint nach der Generation um Angie Kerber, Andrea Petkovic oder Jule Görges eine Lücke zu klaffen. Täuscht der Eindruck?

Man muss sehen, dass wir mit Kerber, Petko, Görges, Lisicki, Siegemund oder Barthel eine Generation hatten, die das deutsche Tennis über Jahre hinweg mit großem Erfolg geprägt hat. Nicht jeder Jahrgang kann so gut sein. Aktuell ist es schwierig: Es sind Spielerinnen da, wie Carina Witthöft oder Antonia Lottner, die Potenzial haben. Aber sie müssen es noch umsetzen. Danach kann es einen kleinen Bruch geben und man muss sich auf die kommenden Jahrgänge konzentrieren, ab 2002 oder 2003. Aber Barbara Rittner hat das super im Griff.

Und wie sieht es bei den Herren aus?

Hier muss man froh sein, einen wie Alexander Zverev zu haben, der schon Starspieler ist und sicher seine Grand Slams gewinnen wird. Danach kommen Leute wie Rudi Molleker oder Daniel Altmaier, der lange verletzt war. Das Potenzial ist da. Auch wenn jemand wie Molleker noch einen großen Schritt machen muss, um in die Sphären von Philipp Kohlschreiber oder sogar Alexander Zverev zu kommen.

Das Gespräch führte Florian Goosmann.

von Florian Goosmann

Freitag
08.03.2019, 15:40 Uhr
zuletzt bearbeitet: 08.03.2019, 14:07 Uhr