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Ein ewiger Pechvogel auf Abschiedstournee

Nach seiner Aufgabe in der ersten Runde der Australian Open wird weit über die Grenzen Sportdeutschlands über Sinn oder Unsinn des erneuten Comebacks des von Verletzungen gebeutelten Tennis-Veterans Tommy Haas diskutiert. Bewundernswert, schwärmen die einen. Absprung längst verpasst, urteilen die anderen. Wer verstehen will, warum Haas' Feuer noch brennt, muss tief kramen und feststellen: Für den besten deutschen Spieler der Post-Becker-Ära geht es nur noch um eines: Selbstbestimmung nach vielen verpassten Gelegenheiten.

von Jannik Schneider
zuletzt bearbeitet: 18.01.2017, 13:26 Uhr

Tommy Haas war einst die Nummer zwei der Welt

Dies ist keine Geschichte über 15 ATP-Titel, erfolgreiche und nicht erfolgreiche Schlachten auf dem Court und jede Menge Emotionen, freigesetzt von Tommy Haas in 20 Jahren Profitennis. Dies ist eine Geschichte, die von verpassten Gelegenheiten handelt, meistens in Kombination mit einem nicht für möglich gehaltenen Verletzungspech des besten deutschen Tennisprofis der Post-Becker-Ära.

Wer wirklich wissen möchte, warum Tommy Haas noch immer nicht aufgegeben, abgeschlossen hat mit dem professionellen Tennis, der möge sich den 21. Juni 2005 ins Gedächtnis hervorrufen. Haas war in einer Zeit, in der die Dominanz von Roger Federer und Rafael Nadal gerade erst begonnen hatte, dabei, sich nach seiner ersten langen 15 monatigen Auszeit in Folge einer Schulterverletzung und einem ordentlichen Comeback-Jahr 2004, wieder in der Weltspitze festzusetzen. Er war mit guter Form nach Wimbledon angereist, hatte große Pläne. Die zweite Woche schien machbar, mindestens. Nach Federer wirkte jeder schlagbar. Erst recht für den mit so viel Talent gesegneten Rechtshänder.

Doch Haas musste sein Erstrundenmatch als gesetzter Spieler gegen den jungen Janko Tipsarevic bereits im zweiten Satz aufgeben. Der 27-Jährige war beim Warmspielen nach einem Aufschlag auf einem herumliegenden Ball ausgerutscht und hatte sich schwer am Sprunggelenk verletzt. Weder davor noch danach in der langen Historie des prestigeträchtigsten Grand Slams lag jemals wieder ein Ball im Spielfeld während der Einspielphase. Zumindest kann sich das beim strengsten Turnier des Jahres niemand so recht vorstellen.

15-minütiger Einblick in Seelenleben

Haas half das alles nichts. Wie ein Häufchen Elend saß der Sunnyboy, die langen Haare zu einem Zopf gebunden, wenig später auf der Pressekonferenz. Was sollte die deutsche Tennishoffnung den Medienvertretern jetzt schon in ihre Blöcke diktieren? Die Grand-Slam-Hoffnung hatte wieder eine große Chance verpasst - und wieder einmal konnte er nichts dafür. Entsprechend wortkarg beendete der Deutsche seine Rasensaison.

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Ähnlich niedergeschlagen saß der Wahlamerikaner am Montag im Pressezentrum der Australian Open in Melbourne, fast zwölf Jahre später. Doch trotz der Enttäuschung nach seinem vorerst gescheiterten letzten Comeback-Versuch hatte Haas etwas zu erzählen. 15 Minuten gab der mittlerweile 38-Jährige Einblicke in das Seelenleben eines arg gebeutelten Leistungssportlers.

Eines Hoffnungsträgers, der mittlerweile neun (!) große Operationen hat über sich ergehen lassen, viermal länger als ein Jahr aussetzen musste und dreimal aus den Tiefen der Weltrangliste zurück unter die besten 15 Spieler der Welt kehrte. Die Spieler, deren Talent gepaart mit ihrem Willen ausreicht, um das zu schaffen, sind wohl an einer Hand abzuzählen.

"Bin glücklich und auch stolz auf mich"

"Das hier war immer eines meiner besten Grand Slams", sinnierte Haas rund drei Stunden nachdem er gegen den Franzosen Benoit Paire nach ordentlichen spielerischen Ansätzen beim Stand von 6:7, 4:6 entkräftet aufgegeben hatte. "Es war noch ein großes Ziel, hier ein letztes Mal spielen zu dürfen." Er sei deshalb trotz der Niederlage sehr glücklich und auch stolz auf sich selbst, "nach der schweren Fußoperation im vergangenen April nochmal alles für ein Comeback unternommen zu haben."

Drei, seiner vier Halbfinalteilnahmen bei Grand Slams hat Haas in Melbourne erreicht ('99, '02, '07), aufgrund seines schwächelnden Körpers jedoch letztmalig 2013 beim Happy Slam aufgeschlagen. Jenes Jahr, in dem er sich mit Mitte 30 und nach der x-ten Schulterverletzung nochmal auf Rang zwölf der Weltrangliste katapultierte.

Verpasster Rücktritt nach Weltklasse-Jahr 2013?

Jenes Jahr, in dem er Novak Djokovic in Miami schlug, das Turnier in München gewann und bei den French Open erstmals das Viertelfinale erreichte. Damit war er erst der dritte Deutsche nach Boris Becker und Michael Stich, der bei allen vier Slams mindestens das Viertelfinale erreicht hat.

Vor seiner Viertelfinal-Niederlage in Wimbledon im selben Jahr gegen den Djoker adelte dieser seinen Kontrahenten: "Er ist in diesen Tagen einer der härtesten Widersacher auf der Tour und er hat sich das nach all den Rückschlägen hart erarbeitet."

Es gibt nicht wenige die behaupten, dass Ende 2013 ob der wieder zurückkehrenden Schulterschmerzen der optimale Zeitpunkt gewesen wäre, aufzuhören. Er müsse doch niemanden mehr etwas beweisen, hieß es.

Dennoch feierten die zahlreichen Fans den Spieler Haas mehr als drei Jahre später auf einem der Nebenplätze in Melbourne nach seiner Aufgabe. Es war sein erstes offizielles Match seit Herbst 2015 und seiner Niederlage gegen Jo-Wilfried Tsonga in Wien.

Haas ist nicht nur in diesen australischen Tagen eine große Nummer und beliebt. Der Wahlamerikaner zog sein Trikot aus, verbeugte sich kurz unter tosendem Applaus und verschwand in der Menge. Die ehemalige Nummer zwei, das ist offensichtlich, genießt diese Momente im Bad der Menge. Diese Momente laufen ihm allerdings davon - das ist ebenso offensichtlich.

"Während des Matches dachte ich, dass ich teilweise schon ganz gutes Tennis gespielt habe, aber leider noch nicht ganz so frei, wie ich mir das gewünscht hätte", erklärte der Deutsche später. Training und Match-Tennis, das sei eben nochmal ein großer Unterschied.

Der Olympiazweite von Sydney 2000 und älteste Teilnehmer im Feld beschrieb aber auch, was die Zuschauer schon wahrgenommen hatten: "Ich habe mich einfach leer gefühlt - da war nichts mehr im Tank." Beim vierten großen Comeback wirkte der zweifache Familienvater erstmals etwas ratlos.

"Da war nichts mehr im Tank"

Er sei schon im ersten Satz von den Emotionen und Gedanken müder gewesen als er sich je erinnern könne. "Mitte des zweiten Satzes hatte ich dann das Gefühl, nicht mehr gerade stehen zu können, ich konnte nicht mehr richtig zum Aufschlag hochkommen."

Sorgen, es könnte wieder die lädierte Schulter sein, zerstreute er. Mitte des zweiten Satzes ließ er den Physiotherapeuten rufen. Doch auch Schmerztabletten brachten keine Besserung. So gab er nach 0:2-Satzrückstand auf. Dabei hatte Haas im ersten Durchgang zwischenzeitlich sogar mit Break vor geführt. Doch körperlich ist er, das gab er selbst zu, weit von einer Slam-Form entfernt.

"Ich hoffe, dass der Körper noch einmal mitmacht, um die Turniere zu spielen, die mir wirklich am Herzen liegen und ich dementsprechend gutes Tennis bieten kann." Unlängst hatte Stich, Turnierdirektor am Rothenbaum in Hamburg, angekündigt, Haas verpflichten zu wollen. Auch die Turniere in München und Stuttgart stehen auf der Agenda.

Haas will ebenfalls in den USA aufschlagen. In Indian Wells ist die langjährige deutsche Nummer eins mittlerweile Turnierdirektor - eine erste Aufgabe für die Zukunft ist also gefunden.

"...das ist sehr wichtig für mich als Tennisprofi"

Kurzfristig wolle Haas aber weiter alles dafür tun, nochmals eine Form auf den Platz zu bringen, die ihn temporär zu einem Herausforderer mache. "Ich möchte immer noch selbst bestimmen, wie ich aufhöre. Das ist sehr wichtig für mich als professioneller Tennisspieler." Ein bekannter Satz von Haas, den er auch am Montag wiederholte.

Bei den Turnieren in den USA oder in Deutschland will er sich noch einen weiteren Wunsch erfüllen. "Ich habe jetzt eine sechs Jahre alte Tochter. Mir liegt sehr viel daran, dass sie in den kommenden Monaten ihren Vater live spielen sehen kann. Das sie sieht, was ich tue und das als Erinnerung für ihr restliches Leben mitnehmen kann. Das ist eine weitere große Motivation für mich."

Der Hauptgrund dafür, nochmal auf die große Bühne zurückgekehrt zu sein, sei aber ein anderer. "Die vergangenen drei Jahre mit der erneuten Schulterverletzung und der Fußoperation sind sehr unglücklich gelaufen". Er wolle sich nicht mit einer Verletzung verabschieden.

Haas hat sich einen Ausnahmestatus erarbeitet

Es klang wie die 300. Rechtfertigung seinerseits. Doch für Haas sind nicht nur die vergangenen drei Jahre bescheiden gelaufen. Seine komplette Laufbahn war geprägt von Rückschlägen. Von kleinen, wie dem Tennisball in Wimbledon bei guter Form. Und den großen Schulterverletzungen. Und dennoch hat Haas "mehr erreicht, als ich mir je zu träumen gewagt habe", erklärte er gegenüber Eurosport bereits vor dem Turnier.

Jenem Sender, auf dem Boris Becker an seinem zweiten Tag als Kommentator bemitleidend bemerkte. "Sein Körper ist vom Leistungssport gezeichnet. Irgendwann macht er nicht mehr mit."

Die Zeichen der Zeit hat Haas selbst erkannt: "Das Spiel der Jungs ist nochmal physicher geworden. Es ist eine große, große Herausforderung. Deswegen ist für mich klar. Dieses Jahr wird jedes Event, das ich spiele, mein letzter Auftritt beim jeweiligen Turnier sein."

Es gibt Sportler, die erreichen eine gewisse Wahrnehmung und Zuneigung in der Öffentlichkeit für ihre Leistung und Einstellung. Nicht nur in Momenten des Erfolgs. Sondern ebenfalls für die weniger guten Zeiten. Haas hat sich diesen Status erarbeitet. Durch die vielen, erfolgreichen Comebacks.

Jenen Status, der ihn dazu befähigt, sich selbst so viel Zeit zu nehmen, wie er eben benötigt, um abzuschließen und zurückzutreten. Und vielleicht geschieht es noch mit dem ein oder anderen kleinen Happy End. Platz für eine dritte, positive Geschichte wäre allemal vorhanden.

Tommy Haas im Steckbrief

von Jannik Schneider

Mittwoch
18.01.2017, 13:26 Uhr