Wien und die verrückteste Geschichte des Jahres

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 01.11.2010, 19:19 Uhr

Musters Comeback? Melzers Turniersieg? Die Schlagzeilen beim Wiener ATP-Turnier gehörten Andreas Haider-Maurer: Die 23-jährige ATP-Nummer 157 sorgte für eine der ungewöhnlichsten ATP-Storys der Saison.

Die Vorgeschichte: Von einem, dem es nicht leicht gemacht wird
Andreas Haider-Maurer ist kein Senkrechtstarter: 23 Jahre alt, seit Jahren zwischen 200 und 300 klassiert. 2010 ist schon vor Beginn des Wiener Turniers "das beste Jahr meiner Karriere" – wegen der ersten überstandenen ATP- (Gstaad) und Grand Slam-Qualifikation (New York), wegen des Vorstoßes in die Top 200.
Andreas Haider-Maurer ist keiner, dem es leicht gemacht wird: Beim Challenger in Kitzbühel Anfang August werden ihm bei der Vergabe der Wild Cards der 42-jährige Thomas Muster und der 16-jährige Dominic Thiem vorgezogen. Als es um die Wild Cards für Österreichs einziges ATP-Tour-Event in der Wiener Stadthalle geht, wird zunächst Thomas Muster bedacht, mittlerweile 43-jährig, dann Martin Fischer, der Haider-Maurer nach dessen verpatztem Davis-Cup-Debüt gegen Israel ersetzt hatte. Und am Tag des Qualifikations-Sign-In sogar James Blake, die angeschlagene ehemalige Nummer vier der Welt. "Ein Tiefschlag", sagt Haider-Maurer. Wiens Turnierdirektor Herwig Straka auf tennisnet.com: "Andi ist ein sehr guter Challenger-Spieler, aber eben nicht eine Ebene drüber."

Samstag, Sonntag: Durch die Mühle
Haider-Maurer trennen in der ersten Qualifikationsrunde im zweiten Satz gerade einmal zwei Punkte vom Aus gegen Jan Hernych, einen 31-jährigen Prager, ATP-Rang 212. Im dritten Satz verletzt sich Haider-Maurer noch am Knöchel, aber er stolpert die Partie nach Hause.
Tags darauf kämpft er Nikola Mektic aus Kroatien mit 6:4 im dritten Satz nieder. Nur noch ein Sieg fehlt zum Einzug in den Hauptbewerb.
Weil er eine Wild Card für das Doppel erhalten hatte, darf er schon Sonntag vom Qualifikanten-Spielerhotel ins Hauptbewerbsspieler-Spielerhotel übersiedeln: "Die Betten sind hier viel größer!"

Montag: Der"private“ Suppen-Eklat
Im Qualifikations-Finale endet Haider-Maurers Traum vom Hauptbewerb: Er verletzt sich am Oberschenkel. Bei 3:6, 0:3 gegen den Türken Marsel Ilhan gibt er auf, "es hat keinen Sinn mehr". Davor erkundigt er sich noch, ob er trotz der Aufgabe als Lucky Loser in Frage kommt; schließlich erhält ein Erstrundenverlierer 5900 Euro, für einen wie Haider-Maurer viel Geld. Montagabend spielt der Österreicher Martin Fischer gegen den Italiener Andreas Seppi sein Erstrunden-Match im Hauptfeld, Haider-Maurer drückt seinem Davis-Cup-Kumpel in der Spielerloge die Daumen. Mitte des ersten Satzes pirscht sich der für seine practical jokes berüchtigte TV-Journalist Andreas Du-Rieux an, flüstert Haider-Maurer zu: "Du bist Lucky Loser. Du spielst gegen Muster." Haider-Maurer: "Verarsch wen anderen." Du-Rieux: "Wirklich, echt!" Haider-Maurer: "Ich geh jetzt zur ATP nachfragen. Wenn das stimmt, muss ich schnell massieren gehen." Haider-Maurer humpelt zum ATP-Supervisor. Am lädierten Oberschenkel lässt er sich später von seinem Konditionstrainer behandeln, einen Physiotherapeuten oder Arzt hat er nicht in seinem Betreuerteam. "Aber der Christian kennt sich eh aus, und er ist auch mit einem Arzt in Kontakt." Auf die Frage, ob sein Oberschenkel ein Spiel heute, Montag, erlauben würde, schüttelt Haider-Maurer den Kopf.

Dienstag: "Das schwerste Match, das ich je hatte"
Ganz Wien spricht seit Samstag über Thomas Musters aussichtslosen Kampf gegen Ernests Gulbis. Muster ist das große Thema des Turniers, er wird erstmals seit Mai 1999 bei einem ATP-Tour-Event antreten.
Tatsächlich steht Dienstagabend dann Andreas Haider-Maurer auf der anderen Seite des Netzes. Denn Gulbis war "aus privaten Gründen" abgereist, was die ATP ihren Spielern zweimal pro Jahr gestattet.
Zu diesen "privaten Gründen" kam es auf bemerkenswerte Weise: Gulbis' Vater besteht Montag in der Players' Lounge der Wiener Stadthalle darauf, um halb elf Uhr vormittags Suppe serviert zu bekommen – Suppe allerdings gibt es erst ab halb zwölf. Vater Gulbis ist über diesen Umstand so erzürnt, dass er einem Mitarbeiter des Caterings eine Tasse heißen Kaffees ins Gesicht schüttet. Der Kellner muss ärztlich behandelt werden, Familie Gulbis reist ab.

Haider-Maurer, für den das Wiener Turnier bereits als Enttäuschung geendet hatte, mit lädiertem Knöchel und einer Muskelverletzung im Oberschenkel, steht plötzlich im Hauptfeld – und trifft auf Thomas Muster, das bestmögliche Los. Jeder im österreichischen Tennis bewundert den Einsatz und die Leidenschaft, mit der Muster sein Comeback verfolgt – aber jeder weiß, dass er weit davon entfernt ist, ein Gegner auf ATP-Tour-Niveau zu sein.
Andreas Haider-Maurer gewinnt den ersten Satz gegen Muster mit 6:2, ohne an seine Leistungsgrenzen gehen zu müssen; freilich wäre er vor der größten Kulisse seines bisherigen Tennislebens allein nervlich nicht in der Lage, an sie zu gehen. Zu Beginn des zweiten Satzes vergibt Haider-Maurer Breakchancen en gros, wird darüber noch nervöser – die knapp 9000 Besucher in der nostalgisch euphorisierten Wiener Stadthalle spüren, dass eine Sensation möglich ist, feuern den 43-jährigen Muster immer frenetischer an. Muster spielt immer besser, der zunehmend blasser und blasser werdende Haider-Maurer immer gehemmter, fehleranfälliger und ängstlicher. Die Partie erhält besonderen Unterhaltungswert, seine gefürchtete Vorhand spielt Haider-Maurer als Slice. Nur mit Glück rettet sich der 23-Jährige in den Tiebreak des zweiten Satzes gegen den das Spiel immer mehr dominierenden 43-Jährigen.
Muster danach: "Ich bin nicht unzufrieden mit meiner Leistung – außer dass ich den zweiten Satz nie und nimmer hätte verlieren dürfen."
Haider-Maurer spricht vom "schwersten Match, das ich je gehabt habe".

Mittwoch: Onkel Andi
Mittwoch ist spielfrei für Haider-Maurer. Er kann ins Krankenhaus zu seiner Schwägerin fahren und erstmals seine kleine Nichte Lea im Arm halten. Haider-Maurer ist seit Montag Onkel: "Einer der schönsten Momente meines Lebens!"
Für den Einzug in die zweite Runde gibt es 9950 Euro und 20 ATP-Punkte: Wien ist bereits jetzt die zweitbeste Woche seiner Karriere.

Donnerstag: "Eine der schlechtesten Partien, die ich je gesehen habe"
Haider-Maurer ist nach seiner wackeligen Muster-Vorstellung gegen Andreas Seppi – der Italiener war davor ungefährdeter Sieger über Martin Fischer – krasser Außenseiter. Und hätte die Partie wohl auch verloren, hätte nicht der Italiener einen rabenschwarzen Tag erwischt.
Die Wiener Stadthalle erlebt Fehler-Orgien von beiden Seiten. Alex Antonitsch, Ex-Profi, Herausgeber von tennisnet.com in Österreich und TV-Co-Kommentator, spricht von "einer der schlechtesten Tennis-Partien, die ich je gesehen habe". Haider-Maurer gewinnt das Hängen und Würgen mit 6:3, 6:7, 7:6, nachdem er im zweiten Satz schon vor dem Sieg gestanden war. Seppi ist Nummer 51 im ATP-Ranking – noch nie hat Haider-Maurer einen so gut platzierten Spieler geschlagen.

Freitag: Schlaflos in Wien

Haider-Maurer schläft seit Beginn der Woche kaum eine Nacht mehr als vier Stunden. Er ist von den Erlebnissen des Tages zu aufgewühlt. "Tagsüber bin ich immer müde, außer wenn ich auf dem Platz stehe."
Er hat mittlerweile 16920 Euro Preisgeld und 45 ATP-Punkte geholt – die beste Woche seiner Karriere, mit Abstand.
Im Viertelfinale trifft er auf Marin Cilic, Nummer 14 der ATP, und gewinnt 7:6, 6:4, weil er der bessere Spieler ist, weil Cilic Haider-Maurers Aufschlag nicht retournieren kann. "Ein verdienter Sieg, find ich…", schreibt er in seinem Blog auf tennisnet.com, und: "Mich überrascht das alles einfach nur selber."
29675 Euro, 90 ATP-Punkte.

Samstag: Auf Petzschners Spuren
Im Halbfinale trifft Haider-Maurer auf Michael Berrer: Österreichs Nummer vier gegen Deutschlands Nummer drei; mehr als 100 Plätze in der Weltrangliste liegen zwischen den beiden. Berrer hat davor Bangkok-Sieger Garcia-Lopez, Cuevas und Baghdatis ausgeschaltet.
Haider-Maurer gewinnt den ersten Satz der Aufschlag-Schlacht im Tiebreak, im zweiten serviert er bei 5:4 zum Matchgewinn. Zwei Doppelfehler, Rebreak, Berrer gewinnt den Tiebreak mit 7:1, Haider -Maurer scheint gestoppt. Aber gewinnt den dritten Satz, als wäre nie etwas gewesen, mit 6:3. Finale.
54800 Euro, 150 Punkte.
"Es ist ein Traum. Früher war das Stadthallen-Turnier für mich ein Highlight – vor dem Fernseher sind mein Bruder und ich stundenlang gesessen und haben die Matches angeschaut."
Finalgegner Haider-Maurers ist Jürgen Melzer, Titelverteidiger, Nummer zwölf der Welt, kürzlich in Shanghai Sieger über Rafael Nadal. Melzer schreibt Samstag in seinem Tagebuch auf tennisnet.com: "Mich erwartet morgen eine ganz schwere Aufgabe – und ich sag’ das nicht aus Höflichkeit. Philipp Petzschner hat 2008 das Turnier aus der Quali heraus gewonnen, als Nummer 125 – das war der Beginn von Petzsches Lauf, ein Jahr später ist er Top 40 gestanden. So was ist natürlich auch dem Andi zuzutrauen."
Haider-Maurer sagt: "Es ist eine Ehre, dass ich gegen den Jürgen spielen darf."

Sonntag: "Er hätte es verdient"
Melzer wirkt am Sonntag im Endspiel verkrampft, Haider-Maurer nicht. Der Außenseiter serviert kaum einen ersten Aufschlag unter 200 km/h, kaum einen zweiten unter 170, er peitscht die Vorhand in die Ecken, trifft jeden Rückhand-Passierball auf die Linien, Netzroller kullern in Serie auf Melzers Seite. Beim Satzball im Tiebreak hat Melzer keine Challenge mehr zur Verfügung. Das Hawk-eye zeigt in der TV-Übertragung: Melzers Ball, den Linienrichter und Umpire out gegeben hatten, war auf der Linie. Das Tiebreak endet 12:10 für Haider-Maurer.
Alex Antonitsch sagt im Fernsehen: "Da oben will offenbar einer, dass der Kerl hier das Turnier wirklich gewinnt."
Im zweiten Satz führt Haider-Maurer mit Break, Melzer hat zu diesem Zeitpunkt keine Chance, kann mit Mühe das Doppelbreak zum 2:5 abwenden. Bei 5:4 serviert Haider-Maurer zum Matchgewinn, es wäre der Turniersieg, der Einzug in die Top 100 der Welt und der damit verbundene Fixplatz im Hauptfeld der Australian Open. Bei 15 beide verpasst sein unretournierbarer Aufschlag die Linie um Millimeter, den zweiten verzieht er: Doppelfehler. Danach noch einer, Rebreak, das Tiebreak geht an Melzer, im dritten Satz ist Haider-Maurer zu müde, um noch dagegen zu halten. Es ist sein 13. Satz im Hauptfeld, dazu die achteinhalb Sätze der Qualifikation, der immer noch lädierte Oberschenkel ("beim Match spüre ich ihn nicht, wegen dem Adrenalin, aber sonst zieht er schon"), der Schlafmangel … in Summe zuviel. Melzer gelingt ein Break, das reicht.
Danach sagt Melzer: "Wenn Andi heute mit 7:6, 6:4 gewinnt, kann ich mich nicht beschweren. Bis zum 5:4 im zweiten Satz war er einfach besser. Er hätte es verdient, hier zu gewinnen."
In Österreich herrscht eine Tennis-Euphorie wie zuletzt Ende der 1980er-Jahre, als Thomas Muster, Horst Skoff und Alex Antonitsch ihre Karrieren in Gang brachten, Muster und Skoff hatten 1988 in Wien das letzte rein österreichische Finale bestritten.
Im Februar kommt Frankreich als Gegner in der ersten Runde des Davis Cups, der Verband sucht nach der größten verfügbaren Halle, Wien ist als Austragungsort wahrscheinlich. "Wir freuen uns alle schon sehr", sagt Jürgen Melzer.(Foto: GEPA pictures / Walter Luger)

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01.11.2010, 19:19 Uhr