Lisicki auf den Spuren von Ivanisevic
Die Berlinerin steht erstmals in einem Grand Slam-Halbfinale – und das als Wildcard-Spielerin. Vor drei Monaten schien sie noch auf Platz 218. im WTA-Ranking auf.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
29.06.2011, 10:17 Uhr

Jörg Allmeroth aus London
War es ein Wink des Schicksals? Oder einfach nur eine Laune des Zufalls? Als Sabine Lisicki jedenfalls am Dienstagmittag nach ihrem strahlenden Halbfinaleinzug ins Spielerzentrum des All England Club zurückkehrte, da war sie auf einmal in unmittelbarer Nähe zu einem Riesen aus Kroatien, dessen Gesicht und Geschichte sich unauslöschlich ins kollektive Wimbledon-Gedächtnis eingebrannt haben. Vor zehn Jahren hatte er, der unverwechselbare Goran Ivanisevic, als erster Spieler überhaupt mit einer Wild Card das wichtigste Turnier der Welt gewonnen, und nun schritt da ausgerechnet Sabine Lisicki an ihm vorbei, die sich mit ihrer „Freikarte“ von den Turnierherren ebenso rekordverdächtig schon bis in die Runde der letzten Vier auf den grünen Tennisfeldern durchgeschlagen hatte. „Kompliment. Wirklich ein Superspiel“, sagte der einstige „Herr der Asse“ ein wenig später über die Berliner Blondine und deutete höflich eine Verbeugung an, „mal sehen, wo diese verrückte Geschichte noch endet.“
„Lisicki hat die Menschen im Sturm erobert“
Die Lisicki-Story ist tatsächlich die erstaunlichste Story des ehrwürdigen Jubiläumsturniers an der Church Road, der 125. Offenen Englischen Meisterschaften. Und wie nie zuvor seit der goldenen Ära mit Champions wie Boris Becker, Michael Stich und Steffi Graf ist ein deutscher Tennisspieler oder eine deutsche Tennisspielerin im heiligen Tempel der Grand Slam-Welt, in Wimbledon, so in den Blickpunkt von Fans und Medien geraten wie das couragierte Fräulein aus Berlin. „Sie hat die Herzen der Menschen hier im Sturm erobert. Mit ihrem Spiel, aber auch mit ihrer unglaublichen Willenskraft“, sagt die BBC-Moderatorin Sue Barker, selbst eine Weltklassespielerin in den 70er Jahren. Ausgerechnet bei dem Turnier, das Karrieren von Centre Court-Assen wie kein anderes definiert, erlebte die Karriere der in Troisdorf bei Köln geborenen und in Berlin lebenden Lisicki, einen kraftvollen Schub und neuen Höhepunkt.
In drei Monaten von 218 in die Top-25
Zufällig ist das allerdings nicht, sondern eher logisch: Denn wie sonst nur die Superstars der Branche verfügt auch die 21-jährige Deutsche über die Qualität, auf den großen Arbeitsbühnen ihres Sports stets die besten, eindrücklichsten Vorstellungen abzuliefern. „Sabine ist für Schauplätze wie Wimbledon geboren“, sagt Barbara Rittner, die kenntnisreiche Chefin des deutschen Damen-Nationalteams und einflussreiche Beraterin der Tennis-Familie Lisicki. Als „Rampensau“ hatte Rittner, die ehemalige Juniorensiegerin in Wimbledon, ihre Auswahlspielerin schon einmal deftig bezeichnet, inzwischen verkneift sie sich das und spricht vornehm von „Sabine, dem idealen Bühnenmensch“: „Wenn das Licht im Theater angeht, spielt sie wie berauscht drauflos.“ Von Platz 218 im März ist sie nun bis unter die besten 25 der Weltrangliste vorgeprescht, ein selten erlebter Durchmarsch in so kurzer Zeit.
Papa Lisicki schrieb Doktorarbeit über „Powertennis mit Präzision“
Tennis ist im Hause Lisicki eine Familienangelegenheit, wie bei so vielen jungen Frauen im Nomadenbetrieb der globalen Tour. Vater Richard Lisicki, ein promovierter Sportwissenschaftler, hatte einst seine Akademiker-Karriere aufgeben, um sich ganz dem Fortkommen seiner hochtalentierten Tochter zu widmen. Der einst als Spätaussiedler aus Polen nach Deutschland gekommene Lisicki schrieb seine Doktorarbeit zum Thema „Powertennis mit Präzision“ und wandte seine jahrelangen Recherchen und Erkenntnisse dann auch gleich praktischerweise bei Sabine an, die in Reichshof-Eckenhagen, 60 Kilometer von Köln entfernt, ihre ersten Tennisübungen absolvierte – dort arbeitete der Papa Ende der 90er Jahre als Coach in einer Akademie. „Sie war schon damals eine total fröhliche, optimistische Person, ehrgeizig und zielbewußt“, sagt Daddy Lisicki.
Bollettieri: „Nur Frage der Zeit bis Lisicki Nummer eins wird“
Doch Tenniskarrieren kosten nicht nur viel Zeit, sondern auch eine Menge Geduld. Und so bahnt sich Lisicki senior früh den Kontakt zum Vermarktungsgiganten IMG - dem einflußreichsten Player in der Szene - und sucht eine Allianz mit der Managertruppe zu schmieden, die ständig auf der Suche nach dem nächsten Superstar ist. Man einigt sich auf einen Deal, der vor allem Ausbildungskosten sparen hilft. Sabine trainiert immer wieder für mehrere Monate im Drillcamp von Nick Bollettieri in Florida, dem erfolgreichsten Coach des Planeten, der immerhin solche Tennis-Giganten wie Andre Agassi, Monica Seles oder Maria Scharapowa in seiner Schule aufgezogen und in den Profibetrieb entlassen hat. Die jährlich anfallenden 40.000 Dollar Kosten für den Aufenthalt bezahlt IMG, eine lohnende Investition, wie sich bald zeigen wird. Bollettieri jedenfalls, der alte Trainerfuchs, ist rasch hellauf begeistert: „Sabine hat die Gene eines Champions“, sagt er. Und es werde nur eine Frage der Zeit sein, „wann sie die Nummer 1 sein wird.“
Lisicki hat „Big Game“
Lisicki hat schon in jungen Jahren das, was die Amerikaner im Tennis das „Big Game“ nennen: Kraftvolle Grundlinienschläge, mit denen sie aus jedem Winkel des Platzes punkten kann. Ein Service, das wie im Formel Eins-Tempo ins gegnerische Feld rauscht, meist um die 200 Stundenkilometer schnell. Und dann eben noch diese Attitüde der Furchtlosigkeit, ein Spiel, das keine Angst vor großen Namen und in prickelnden Lebenslagen auf dem Court kennt. Schon mit 19 Jahren erreicht sie erstmals das Viertelfinale in Wimbledon, wird als kommender Star gefeiert, als „wahre Erbin von Steffi Graf“ Doch Lisicki, schnell als Fräulein BumBum einsortiert, wehrt die Vergleiche souverän ab: „Niemand kann die zweite Steffi Graf sein. Steffi ist einmalig. Ich bin Sabine Lisicki.“
Als die Karriere im Jahr 2010 wegen einer heillosen Verletzungsserie und noch dazu vermeintlicher Behandlungsfehler amerikanischer Ärzte auf Standby geschaltet ist, wirft das die „unheimlich konsequente Kämpferin“ (Rittner) auch nicht aus der Bahn. „Ich wusste immer, dass ich in die Weltspitze zurückkehren werde“, sagt Lisicki im Blick zurück, und ihr, der „lebensfrohen, immer positiv denkenden Person“ (Vater Richard), nimmt man das auch ab. Gefragt ist allerdings in den schweren Tagen doch auch der hartnäckige Zuspruch von Mutter Maria, einer Malerin, von der Sabine ihre Sensibilität und Emotionalität geerbt hat. „Sie ist eine ganz wichtige Bezugsperson für Sabine“, sagt Rittner, die Expertin.
Vor drei Jahren, als Lisicki bei den Australian Open in Melbourne erstmals so richtig im Profizirkus auftaucht und ein, zwei spektakuläre Siege feiert, verblüfft sie die deutsche Reporterschar mit dem festen Vorsatz, „die Nummer eins der Welt werden zu wollen.“ Nur wer sich große Ziele setze, sagt sie mit ungerührter Miene, „könne auch Großes schaffen.“ Ist das nun Vermessenheit, Arroganz, Unbedarftheit? Oder glaubt da eine wirklich, aus tiefstem Herzen, an das ferne Ziel? „Man darf sich nicht täuschen in Sabine“, sagt Vater Richard, „hinter ihrem Lächeln und ihrem charmanten Auftreten steckt eine ganz ehrgeizige junge Frau. Sie weiss genau, was sie will. Und was sie kann.“ Er selbst, sagt Daddy Lisicki, sei auch „hundertprozentig davon überzeugt, dass sie den Gipfel erklimmt.“
Doch nach der langen Verletzungspause und einem mühseligen Comeback bietet erst Wimbledon 2011 einer kraftvollen, gesunden und drahtigen Sabine Lisicki die Plattform, um sich als zukünftige Starspielerin oder gar Grand Slam-Königin anzukündigen. Anderthalb Wochen spielt sie nun schon mit einer Selbstverständlichkeit und Seelenruhe so prachtvolles Tennis, dass das scheinbar Unmögliche möglich werden kann, ein erster Grand Slam-Sieg einer Generation, die die Beckers und Grafs nur noch aus dem Fernseher kennt. Verbunden fühlt sich Lisicki allerdings nicht den alten Idolen, sonderneher einem ganz anderen, dem Formel 1- Weltmeister Sebastian Vettel. Der hatte – Schicksal oder Zufall - seinen ersten Grand Prix-Sieg 2009 am gleichen Wochenende gefeiert, an dem auch Lisicki zum ersten Titelgewinn in Charleston stürmte. „Ich würde ihn gerne mal treffen“, sagt Lisicki.(Foto: Hasenkopf)