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Titelverteidigung der besonderen Art

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 26.09.2017, 14:52 Uhr

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Michael Stich of Germany during the Men's Singles Final of the Wimbledon Lawn Tennis Championship against Boris Becker on 7 July 1991 at the All England Lawn Tennis and Croquet Club in Wimbledon, London, England. (Photo by Simon Bruty/Getty Images)

Von Christian Albrecht Barschel

Als Michael Stich 1992 in Wimbledon anreiste, zählte er zu den großen Turnierfavoriten. Der Deutsche ging beim prestigeträchtigsten Grand-Slam-Turnier als Titelverteidiger an den Start. Ein Jahr zuvor hatte Stich deutsche Sportgeschichte geschrieben, als er im rein-deutschen Wimbledonfinale Boris Becker entzaubert hatte. Ein überraschender Triumph, der aus dem Erfolgsduo mit Becker und Steffi Graf ein deutsches Erfolgstrio machte. Im April 1991 hatte der ehemalige Fußballprofi Karl-Heinz Rummenigge noch süffisant prophezeit. "Der 1. FC Kaiserslautern als Deutscher Fußballmeister, das wäre ja, als ob Michael Stich Wimbledon gewinnen würde." Drei Monate später war beides eingetroffen und die Welt um eine berühmte Fehleinschätzung reicher.

Ein Jahr nach seinem Wimbledon-Coup war Stich fester Bestandteil in der Weltspitze. "Wenn alle ihr bestes Tennis spielen, ist Stich der Beste", äußerten sich Pete Sampras und Jim Courier über den Deutschen. Mit dem Turniersieg beim Rasenturnier in Rosmalen im Gepäck strotzte Stich vor Selbstvertrauen und verkündete, dass er Wimbledon wieder gewinnen könne. Als Nummer drei der Setzliste wurde der damals 23-Jährige seiner Favoritenrolle zunächst gerecht und zog ins Viertelfinale ein. Dort kassierte Stich allerdings eine herbe Dreisatzniederlage gegen den späteren siebenfachen Wimbledonsieger Pete Sampras. Das Turnier war für Stich gelaufen und der zweite Wimbledontitel ad acta gelegt. So schien es jedenfalls, doch Stich hatte noch die Doppelkonkurrenz, in der eine ungewöhnliche Allianz einging.

Ungleiches Paar harmoniert prächtig

Stich spielte im Doppel gemeinsam mit John McEnroe, der in der Vergangenheit besonders in Wimbledon sein Genie unter Beweis stellte. Der US-Amerikaner triumphierte im Einzel dreimal in Wimbledon, im Doppel waren es bis 1992 sogar vier Titel. Das ungewöhnliche Duo hatte sich beim Vorbereitungsturnier in Rosmalen das erste Mal zusammengefunden. Auf der einen Seite der unterkühlte Stich, der nur selten seine Emotionen auf dem Platz zeigte. Auf der anderen Seite der heißspornige McEnroe, der mit vollem Temperament spielte und sich über alles und nichts so herrlich aufregen konnte. Die beiden Temperamente ergänzten sich allerdings prima. In Rosmalen erreichten Stich/McEnroe das Finale - sie unterlagen im Endspiel den US-Amerikanern Jim Grabb und Richey Reneberg.

Die erfolgreiche Allianz fand ihre Fortsetzung in Wimbledon, wo John McEnroe auch im Einzel seinen dritten Frühling erlebte. Der damals 33-Jährige schied erst im Halbfinale gegen den späteren Wimbledonsieger Andre Agassi aus. Die Doppelbelastung mit Einzel und Doppel schien McEnroe eher zu beflügeln als zu hemmen. Stich/McEnroe stürmten durch das Turnier und erreichten ohne Satzverlust das Endspiel. Ihre Gegner waren McEnroes Landsleute Jim Grabb und Richey Reneberg, gegen die sie vor drei Wochen in drei Sätzen beim Finale in Rosmalen unterlegen gewesen waren.

Stich wehrt Matchbälle ab

Kurz vor 17 Uhr Londoner Ortszeit betraten die Doppelfinalisten den Court 1 in Wimbledon, ohne zu ahnen, dass sie eins der dramatischsten Doppelfinals in der Grand-Slam-Geschichte spielen sollten. Grabb/Reneberg sicherten sich den ersten Satz eins mit 7:5. Stich/McEnroe schafften den Satzausgleich im Tiebreak des zweiten Satzes. Doch das deutsch-amerikanische Duo war mit ihrer Leistung nicht zufrieden. Immer wieder schimpften die beiden über die Blitzlichter der Kameras und waren eher mit sich selbst und den Umständen als mit dem Finale beschäftigt. Der dritte Satz ging mit 6:3 an Grabb/Reneberg. Mit dem Break zum 3:2 im vierten Satz für die US-Amerikaner schien die Partie gelaufen, da Stich/McEnroe selbst noch kein Break geschafft hatten. Wenig später kassierten Grabb/Reneberg aber das Break zum 4:4. Das Match war wieder offen.

Zum zweiten Mal im Match ging es in den Tiebreak. Bei 5:4-Führung hatte Reneberg zwei Aufschläge und konnte den möglichen Wimbledontitel nach Hause servieren. Mit starken Returns erspielten sich Stich/McEnroe beide Punkte und glichen durch einen Aufschlag-Winner des Deutschen wieder in den Sätzen aus. Das Doppelfinale ging schließlich in den fünften Satz, in dem es in Wimbledon traditionell keinen Tiebreak gibt. Stich/McEnroe waren im fünften Satz zunächst das bessere Team. Doch ein Break wollte den beiden trotz guter Möglichkeiten nicht gelingen. Mit der Bürde, im fünften Satz immer mit dem Aufschlag nachzuziehen, begannen Stich/McEnroe in der entscheidenden Phase zu wackeln. Bei 6:7-Rückstand servierte Stich ein weiteres Mal gegen den Matchverlust. Grabb/Reneberg erspielten sich dann zweimal jeweils einen Matchball, den Stich mit guten Aufschlägen abwehren konnte.

Entscheidung vertagt - Abbruch bei 13:13

Kurz vor 21 Uhr Ortszeit waren vier Stunden gespielt. Es stand 9:9 und es wurde immer dunkler auf Court 1. Es ging aber munter weiter. Beide Teams brachten ihre Aufschlagspiele durch. Um 21:20 Uhr nach 4:27 Stunden Spielzeit verkündete Stuhlschiedsrichter Gerry Armstrong beim Stand von 13:13, dass das Match wegen schlechter Lichtverhältnisse unterbrochen ist. Das Publikum wollte allerdings, dass längst noch nicht Schluss ist. Auch die Spieler diskutierten untereinander. Stich, McEnroe und Reneberg wollten sich über das Protokoll hinwegsetzen und eine Entscheidung im Tiebreak herbeiführen. Doch Grabb und Oberschiedsrichter Alan Mills widersetzten sich dem, was schließlich zum Spielabbruch führte.

Am nächsten Tag um 13 Uhr Ortszeit ging es bei sonnigem Wetter weiter. 7.500 Zuschauer hatten das Glück, einen Platz auf Court 1 zu ergattern - der Eintritt auf die Anlage in Wimbledon war am "People's Monday" nämlich frei. Eine schnelle Entscheidung sollten die Zuschauer nicht erleben. Alle vier Spieler brachten ihre Aufschlagspiele zweimal durch. Beim Stand von 17:17 war wieder Reneberg an der Reihe. Mit dem spektakulärsten Ballwechsel im Match erspielten sich Stich/McEnroe einen Breakball. Und den nutzte McEnroe eiskalt mit einem sehenswerten und unerreichbaren Lob über Reneberg. McEnroe ließ sich nicht zweimal bitten und servierte mit seiner ganzen Routine zum Wimbledonsieg.

"Jetzt aufzuhören, wäre verrückt"

Nach fünf Stunden und einer Minute Spielzeit verwandelten Stich/McEnroe den ersten Matchball zum 5:7,-7:6-(5),-3:6,-7:6-(5),-19:17-Erfolg. Stich hatte damit seinen Wimbledontitel aus dem Vorjahr verteidigt, in einer anderen Art und Weise - einer ganz besonderen. Mit einer Ehrenrunde feierten Stich/McEnroe ihren Triumph im längsten Wimbledon-Doppelfinale in der Geschichte. Für "Big Mac" sollte es der letzte Auftritt auf dem heiligen Rasen von Wimbledon gewesen sein. Der US-Amerikaner verkündete, dass 1992 die letzte volle Saison sei, die er spiele. "Ich werde zurückkommen, aber ich weiß noch nicht in welcher Funktion. Ich würde sagen, dass die Chancen sehr gut stehen, dass ich zurückkomme und im Doppel spiele", sagte McEnroe nach dem Titelgewinn und trat dennoch nie wieder in Wimbledon an.

Die Partnerschaft zwischen Stich und McEnroe war jedoch mit dem Wimbledonsieg nicht beendet. "Ich denke, dass es angebracht wäre, dass wir auch die US Open spielen. Jetzt aufzuhören, wäre verrückt", erklärte McEnroe. Uns so kam es auch. Das Erfolgsduo trat auch bei den US Open gemeinsam an. Stich konservierte seine gute Doppelform mit dem Gewinn der olympischen Goldmedaille in Barcelona an der Seite von Boris Becker. Bei den US Open waren Stich/McEnroe ebenfalls auf dem Erfolgsweg und zogen in das Halbfinale ein. Dort trafen sie auf alte Bekannte, nämlich auf Grabb und Reneberg. Die beiden US-Amerikaner revanchierten sich für die bittere Finalniederlage in Wimbledon, setzten sich in fünf Sätzen durch und gewannen anschließend die US Open. Für Stich und McEnroe ging mit der Niederlage die kurze und erfolgreiche Partnerschaft zu Ende. (Foto: GEPA pictures)

von Christian Albrecht Barschel

Dienstag
26.09.2017, 14:52 Uhr