Befreit von der großen Last
Die Tschechin suchte nach Wimbledon lange ihre Form. Nach dem Erfolg in Linz scheint sie nun in Istanbul bereit für den großen Wurf.
von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet:
28.10.2011, 11:34 Uhr

Von Jörg Allmeroth
Als Petra Kvitova kürzlich in der Linzer Tennisarena über die Monate nach ihrem Wimbledon-Erfolg sprach, da legte sich ein etwas melancholisches Lächeln auf ihr Gesicht: „Es gibt ein Leben vor einem Wimbledon-Sieg. Und eins danach“, sagte die junge Tschechin in der Talkrunde mit einem kleinen Journalistenkreis. Und es war unschwer herauszuhören, dass das Leben seit dem strahlenden Sommertag im All England Club eher Last als Lust gewesen war. Nicht „gerade einfach“ seien der Rummel und das plötzliche Leben im Rampenlicht gewesen, so Kvitova: „Ich bin ein ganz normales Mädchen gewesen. Und nun war ich auf einmal ein Star.“
Doch wenn nicht alles täuscht, wenden sich auf der Zielgeraden dieser verrückten Saison die Dinge gerade zum Guten für die 21-jährige Powerfrau, die sich langsam, aber sicher doch mit ihrer Spitzenrolle im Wanderzirkus und der unvermeidlichen Popularität als Königin von Wimbledon zu arrangieren scheint. Bei der Damen-Weltmeisterschaft in Istanbul glänzt die monatelang kriselnde Linkshänderin mit nervenstarken, dynamischen, sehr souveränen Auftritten.
Schon nach zwei mühelosen Siegen in der Gruppenphase gegen gegen Vera Zvonereva und Caroline Wozniacki hat Kvitova das Halbfinale des Championats erreicht. „Irgendwie ist der Knoten geplatzt“, sagt die Newcomerin der Saison, die in Wimbledon mit harten Punchs und Nerven wie Drahtseilen den Grand Slam-Thron erobert hatte. Expertinnen wie die legendäre Amerikanerin Billie Jean King bezeichnen Kvitova als „Titelfavoritin Nummer eins“ am Bosporus, knappe vier Monate nach dem Wimbledon-Coup.
In Fachkreisen schon vor Wimbledon hoch gehandelt
Ganz überraschend war der Wimbledonsieg der Tschechin für Fachkreise freilich nicht gekommen, schliesslich hatte Kvitova auch schon in der Vorsaison mit einem Halbfinaleinzug am ehrwürdigsten und wichtigsten aller Tennis-Schauplätze geglänzt. Und die Anwärterschaft auf eine wichtige Rolle im Spitzenfeld der Tour und auf größere Pokaltriumphe hatte sie in den ersten Monaten der Spielzeit 2011 längst mit Siegen in Brisbane, Paris (Hallenturnier) und Madrid untermauert. Und so war und ist die junge, ziemlich bescheidene und ziemlich natürliche Frau aus dem kleinen Dörfchen Fulnek alles andere als ein „One-Hit-Wonder“, jemand, der in der Tennis-Hitparade wie aus dem Nichts einen Volltreffer landet und danach wieder im Niemandsland und in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.
„Petra Kvitova“, sagt ihre berühmte Landsfrau Marina Navratilova, „wird zu den bestimmenden Spielerinnen der nächsten Jahre gehören. Sie hat das Spiel für die großen Siege.“ Beobachterinnen wie die ehemalige Nummer eins-Spielerin Tracy Austin halten es sogar für möglich, dass sich Kvitova als erste aus den Wirrnissen der gegenwärtigen Führungslage erhebt und „mit mehr Konstanz das Spitzenfeld anführt.“ Anders als die Noch-Nummer 1 Caroline Wozniacki verfüge Kvitova über ein Spiel, „mit dem sie regelmäßig jede Gegnerin dominieren kann.“
Tatsächlich ist die Tschechin nicht eine dieser Konterspielerinnen vom Schlage Wozniackis, die bloß geduldig, aber auch ein wenig ermattend auf Fehler der Konkurrenz lauern – und selbst wenig zum Gehalt eines Duells beitragen. Kvitova sucht selbst die Entscheidung, geht hohes Risiko, auch auf die Gefahr hin, einmal zu überdrehen mit dem eigenen Wagemut. „Mein Spiel ist es, selbst das Spiel bestimmen zu wollen“, sagt die 21-jährige, die an guten Tagen mit so überwältigender Kraft und Präzision spielt, dass nichts und niemand sie aufhalten kann. Härter als Kvitova schlägt im ganzen Wanderzirkus nur noch Serena Williams auf den armen Filzball, doch wann bekommt die weltweite Fangemeinde die erratische Amerikanerin schon noch einmal zu sehen.
Wendepunkte Oberösterreich
Kvitova gehört zweifellos die Zukunft im Tenniszirkus, umso mehr, wenn sie nach diesem ebenso schönen wie schwierigen Jahr schnell zu mehr Konstanz auf hohem Niveau finden kann. Nach Wimbledon stand ihr Leben ja erst einmal völlig auf dem Kopf, in jeder Beziehung: Den euphorischen Glücksgefühlen über den grandiosen Sieg folgten das Ballyhoo der Feiern in der Heimat, aber eben auch die gewachsenen Ansprüche der Öffentlichkeit und der eigene Erwartungsdruck.
„Es ist nicht so leicht, wenn einen plötzlich jeder auf der Straße erkennt. Und wenn die Leute denken, jetzt geht es so weiter mit den Erfolgen“, sagt Kvitova, „das muss man erst mal verkraften.“ Genaugenommen dauerte es bis zu dem unscheinbaren Start beim WTA-Turnier in Linz, bis sie wieder zu sich selbst und ihren Stärken fand. Dort, in Oberösterreich, siegte sie, und der Schwung des Turniergewinns beflügelt sie nun auch in Istanbul zu starken Vorstellungen auf großer Bühne. Wie weggeblasen scheinen die Unsicherheiten und Zweifel des Tennissommers, bei dem der fraglose Tiefpunkt in New York gelegen hatte – mit dem Erstrunden-Aus bei den US Open.
Als Kvitova damals nach Linz gekommen war, hatte sie seit Wimbledon nur ganze fünf Spiele gewonnen und war nie in Reichweite eines Titels gewesen. Nun könnte sie, auf den letzten Metern der Saison, Weltmeisterin werden. Und die Nummer 2 der Weltrangliste. „Was für ein Jahr ist das?“, fragt sich Kvitova da selbst ein wenig ungläubig. Und sagt dann: „Sicher eins, dass ich nie vergessen werde.“(Foto: J. Hasenkopf)
