"Was nicht zu verändern ist, muss man akzeptieren"

Die Nummer eins der Welt, Angelique Kerber, im ausführlichen Interview vor Beginn der WTA Finals in Singapur.

von Interview: Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 21.10.2016, 07:14 Uhr

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SINGAPORE - OCTOBER 21: Angelique Kerber of Germany poses during the Official Draw Ceremony prior to the BNP Paribas WTA Finals Singapore at Marina Bay Sands on October 21, 2016 in Singapore. (Photo by Clive Brunskill/Getty Images)

Angelique Kerber (28) ist die Nummer eins der Tenniswelt. Sie gewann in einer Ausnahmesaison 2016 die Australian Open und die US Open, holte die olympische Silbermedaille in Rio, stand im Wimbledon-Finale und gewann auch das Heimspiel beim Stuttgarter Porsche Grand Prix. Ab Sonntag tritt Kerber beim Saisonfinale der besten Acht in Singapur an, sie ist zum vierten Mal bei der WM am Start.

Seit Sie die Nummer eins der Welt sind, sind Sie von Interview zu Interview geeilt, haben tausende Antworten gegeben. Welche Frage können Sie nicht mehr hören?

Angelique Kerber: Ich finde keine Frage schlimm. Ich beschwere mich ja auch nicht, dass ich jetzt Aufmerksamkeit finde. Auch dafür habe ich ja immer gekämpft: Anerkennung für meine Leistung zu kriegen.

Sie haben sich in diesem Jahr viele Ihrer größten Träume erfüllt. Wie hat Sie das als Mensch und Sportler verändert?

Kerber: Als Mensch habe ich mich gar nicht verändert. Als Spielerin bin ich viel selbstbewusster geworden. Ich weiß, was ich kann. Ich weiß, dass ich große Leistungen in großen Spielen zeigen kann. Das Gefühl, seine ganze Karriere gedreht zu haben, ist auch ein ziemlich gutes Gefühl.

Macht dieses Gefühl die Erfolge noch wertvoller?

Kerber: Mir ist nichts geschenkt worden. Ich bin durch einige tiefe Täler marschiert, bevor es dann aufwärts ging. Zwischendurch hatte ich selbst den Glauben verloren, dass es nach oben gehen kann für mich. Es ist schon eine verrückte Geschichte, diese letzten fünf Jahre vom Fast-Aufhören bis auf Platz eins.

Grand-Slam-Siege, olympische Silbermedaille, der Sprung auf Platz eins - das hat Sie sehr bekannt gemacht. Dabei hat man den Eindruck, Sie wollen eigentlich nicht gerne eine öffentliche Person sein.

Kerber: Ich war niemand, der sich früher in den Mittelpunkt drängte. Der diese Öffentlichkeit unbedingt brauchte. Aber ich genieße jetzt auch mal eine schöne Feier, einen tollen Event. Das ist für mich auch eine Belohnung für die harte Arbeit, die ich investiere.

Berühmte Vorgänger wie Steffi Graf oder Boris Becker klagten auf der Höhe ihres Ruhms über ein Leben im goldenen Käfig. Wie sind Ihre Erfahrungen bisher?

Kerber: Ich fühle mich nicht irgendwie gefangen, auf keinen Fall. So ist es nicht. Ich will mich da auch nicht mit Steffi oder Boris vergleichen. Natürlich war der Rummel nach dem Australian-Open-Sieg unheimlich groß, da stürzte eine Welle über mich drüber, es war wirklich überwältigend. Aber du musst das als Teil des Jobs akzeptieren, wenn nicht, hast du ein Problem als Spitzenspielerin.

Als Nummer eins, auch vorher als Top-Ten-Spielerin kann man sich irgendwie nie zurücklehnen, verschnaufen, ausruhen. Es gibt auch unzählige Verpflichtungen neben dem Centre Court.

Kerber: Anfangs ist das eine enorme Belastung gewesen, etwas völlig Neues, Ungewohntes. Nun habe ich das sehr gut im Griff, auch weil man gewisse Automatismen entwickelt, nicht so viel Kraft investieren muss. Vieles läuft einfach wie von selbst ab. Aber ich klage nicht darüber: Ich wollte dahin, und nun erfülle ich da auch meine Pflichten.

Dieses Programm auf und neben dem Platz, das geht auch an die Substanz. Sie müssen sich ihre Kräfte gut einteilen.

Kerber: Ganz klar. Es ist eine neue Welt, in die man hineingeschleudert wird. Und man muss sich schnell zurechtfinden, sich so aufstellen, dass man klar kommt. Und man muss auch schnell lernen, Nein sagen zu können.

Sind Sie misstrauischer geworden im Umgang mit anderen Menschen?

Kerber: Ich hoffe nicht. Ich spüre umgekehrt auch keinen Neid mir gegenüber. Oder jemanden, der mir den Erfolg nicht gönnt.

Sie gelten ja auch als Perfektionistin, die sich selten mit dem Erreichten zufrieden gibt? Wie blicken Sie da aufs Jahr 2016 zurück?

Kerber: Ich war immer äußerst ehrgeizig, hatte sehr hohe Ansprüche an mich selbst. Das war auch nötig, um es überhaupt ins Profitennis zu schaffen. Es ist wichtig, immer das Beste zu wollen, auch wenn man nicht immer das Beste schafft. Und man muss aufpassen, dass da kein lähmender Druck oder Verkrampfung entsteht. Ich brauchte meine Zeit, bis ich meine Ambitionen in die richtige Richtung lenken konnte. Das Jahr 2016? Es war perfekt für mich. Ein Traum. Einfach grandios.

Jahrelang litten Sie in wichtigen Spielen unter eigenem oder öffentlichem Erwartungsdruck? Wie sind Sie diese Last losgeworden, auch Versagensängste und Zweifel?

Kerber: Ich denke, durch meine bessere Fitness, durch ein besseres Körpergefühl habe ich einfach eine ganz andere Statur gekriegt. Tennis ist heute physisch so anspruchsvoll geworden, da brauchst du diese Gewissheit, jedes noch so harte Duell durchstehen zu können, ganz elementar. Es war ein langer, mühsamer Prozess, auch den Druck abschütteln zu können, mehr Lockerheit und Gelassenheit zu finden.

Sie haben früher auch mit einem Mentaltrainer gearbeitet. In Profisportarten liegt darüber oft ein Tabu, solche Hilfe wird gerne totgeschwiegen. Wie hilfreich war das für Sie?

Kerber: Mir hat das geholfen, ganz sicher. Du kannst aber noch hundert Mal Tipps und Ratschläge bekommen - auf dem Platz bist du ganz allein. Der einsamste Mensch überhaupt. Diese mentale Stärke jetzt - die kommt aus der Summe aller emotionalen Erfahrungen. Du lernst aus Siegen, aus Niederlagen, aus allem, was in dieser verrückten Tenniswelt mit dir passiert.

Denken Sie manchmal: Wäre ja ganz schön gewesen, schon Anfang 20 weiter gewesen zu sein?

Kerber: Nein. Ich finde es genau richtig, wie es gekommen ist. Dieses Jahr 2016 war der Zielpunkt meines langen Marschs. Und was auf diesem Marsch passiert ist, will ich auch gar nicht missen. Es ist heute ganz normal im Tennis, dass die großen Erfolge erst später kommen, manchmal sogar jenseits der Dreißig.

Andere spielten vor Ihnen die Hauptrolle in der Öffentlichkeit, ihre Freundin Andrea Petkovic, dann auch Sabine Lisicki. Gab es da auch mal Neidgefühle?

Kerber: Gar nicht. Ich habe mich über die Siege gefreut. Aber für mich gedacht: Mensch, das kannst du doch auch schaffen. Es war immer ein gesunder Konkurrenzkampf zwischen uns, eine positive Rivalität.

Von dem Punkt 2011, Mitte der Saison damals, als Sie in einer Krise aufhören wollten, bis zu den Erfolgen dieses Jahres: Was war der wichtigste, der entscheidende Faktor für diesen Aufschwung?

Kerber: Dass ich nie, nie, nie aufgegeben habe, auch wenn es schwer war für mich. Und dass ich Menschen um mich herum hatte, die an mich geglaubt haben und die mich ohne Wenn und Aber unterstützten.

Sie umgeben sich im Team Kerber nur mit vertrauten Gesichtern, die Sie, wie Trainer Beltz, schon seit Jugendtagen kennen. Was steckt dahinter?

Kerber: Wenn man so viel Zeit zusammen verbringt in einem langen, langen Tennisjahr, dann muss man sich sportlich und menschlich verstehen. Sonst hat man schnell ein Problem. Der Erfolg hat auch mit dem absoluten Vertrauen zu tun, das man im Team untereinander hat.

Tennisjahre sind Hundejahre. Sie reisen fast das ganze Jahr durch die Welt, kreuz und quer durch Zeitzonen und über Kontinente hinweg. Wird man dieses Nomaden-Daseins nicht auch mal überdrüssig?

Kerber: Also, die Tage, an denen ich wieder mal meine Koffer packen muss, werde ich sicher nicht vermissen. Es ist ja oft so, dass man morgens aufwacht und gerade nicht mehr weiß, wo man überhaupt ist. Aber unser Arbeitsplatz ist die Welt, deshalb reisen wir 35, 40 Wochen umher. Und was nicht zu verändern ist, muss man akzeptieren. Als Topspielerin muss man aber mehr denn je aufpassen, seinen Turnierkalender gut einzuteilen und sich auch die nötigen Pausen zu gönnen.

Noch einmal zurück zu den Erfolgen in diesem Jahr 2016? Was war der größte Moment? Einer der beiden Grand-Slam-Siege oder der Sprung auf Platz eins?

Kerber: Der Doppelschlag in New York, US Open und Platz eins, der war schon herausragend. Aber die Olympischen Spiele waren eine besondere emotionale Erfahrung, einfach weil es ein Kindheitstraum war, einmal eine Medaille zu gewinnen. Sportlich war auch sehr wichtig, den Porsche Grand Prix in Stuttgart gewonnen zu haben. Das war der Moment, wo die schweren Monate nach dem Australian-Open-Sieg vergessen waren. Wo ich wusste: Ich kann das alles schaffen. Ich werde oben bleiben.

Gibt es noch diese Momente, wo Sie aufwachen und denken: Mensch, ich bin die Nummer eins der Welt, Wahnsinn?

Kerber: Es ist immer noch ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Und es gibt keine Sekunde, in der ich das alles nicht genieße.

Wie schwer ist es, sich am Ende dieser langen, mörderischen Saison noch für die WM hier in Singapur zu motivieren?

Kerber: Es war das schönste, aber auch härteste Jahr meiner Karriere. Aber alle Spielerinnen spüren diese Saison in den Knochen. Jetzt gilt es, noch einmal alle Kraft hier in Singapur zu mobilisieren. Ich will hier gewinnen und mich als Nummer eins bestätigen.

Danach können sie endlich mal länger in Urlaub gehen? Können Sie in den Ferien total abschalten - oder denken Sie da auch schon wieder an all das, was im nächsten Jahr kommt, die Verteidigung des Tennisthrons und der Toptitel?

Kerber: Abschalten, das geht nicht auf Knopfdruck. Es braucht immer seine Zeit, bis man von diesem massiven Stress runterkommt - zwei, drei Tage auf jeden Fall. Und dann merkst du aber, da sitzt jetzt eben keiner mehr hinter dir, der sagt: Essen! Kraftraum! Training! Plötzlich wird alles entspannter, man schläft besser, man denkt auch nicht mehr dauernd an Tennis.

FRAGEBOGEN:

Was ich an mir selbst mag? Ich denke, man kann sich auf mich verlassen.

Was mich an mir selbst stört? Meine Stimmung in den frühen Morgenstunden.

Was ich an anderen Menschen schätze? Ehrlichkeit.

Was mich an anderen Menschen stört? Oberflächlichkeit.

Was mir am wichtigsten bei Freundinnen und Freunden ist? Gegenseitiges Vertrauen.

Welche Persönlichkeit ich am liebsten kennenlernen möchte? Barack Obama, um zu erfahren, wie er mit Druck und Erwartungen umgeht.

Welche drei Dinge nehmen Sie auf die berühmte einsame Insel mit? Gute Freunde ... und vielleicht eine kleine Strandbar, ginge das?!

Was ich am liebsten geworden wäre, wenn nicht Tennisspielerin? Das wird man wohl sehen, sobald meine aktive Karriere als Tennisspielerin vorbei ist.

Welche Musik ich am liebsten höre? Ich bin ein unkomplizierter Musikfan - mir gefallen viele Richtungen.

Was ich am liebsten im Fernsehen sehe? Ich bin ein Serienfan. Zur Zeit ist "Homeland" mein Favorit.

Meine LieblingsschauspielerIn? Julia Roberts

Mein Lieblingsfilm? The Notebook

Was ich am schnellen Autofahren mag? Die Sportlichkeit und Dynamik.

Wie viele Punkte ich in Flensburg habe? Keine.

Wie viele Schuhe ich besitze? Frauen sollten sowas für sich behalten...

Mein Lieblingsort? New York.

Mein Lieblingsbuch? Alchemist

Meine Lieblingsfarbe? Blau

Mein Lieblingsessen? Crepes

Mein Lebensmotto? Schau´ nicht zurück, sondern nach vorne und genieße jeden Moment.

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von Interview: Jörg Allmeroth

Freitag
21.10.2016, 07:14 Uhr