Zwischen Genie und Wahnsinn: Dr. Kyrgios und Mr. Nick am Weissenhof

Nick Kyrgios schien selbst nicht so recht zu wissen, was er am Donnerstag auf dem Tennisplatz zu suchen hatte. Am Ende gewann er immerhin - und fand zumindest hieran etwas Erfreuliches.

von Florian Goosmann
zuletzt bearbeitet: 14.06.2018, 19:00 Uhr

Nick Kyrgios

Von Florian Goosmann aus Stuttgart

- "Paul, du musst aufstehen, du musst in die Schule!"

- "Och Mama, noch fünf Minuten..."

(Fünf Minuten später)

- "Paul, jetzt musst du wirklich los!"

- "Ich will aber nicht! Die Lehrer sind doof... und die Schüler ärgern mich... Sag mir zwei Gründe, warum ich in die Schule muss!"

- "Paul, du bist 45, und du bist der Direktor!"

***

Nick Kyrgios ist keine 45, er ist auch kein Direktor. Nick Kyrgios ist Tennisprofi, aber den tieferen Sinn, heute auf dem Tennisplatz zu stehen, schien auch er nicht einzusehen. Kyrgios wirkte, als habe man ihn ebenfalls zu früh aus dem Bett geholt, um kurz nach 13 Uhr schon. Kyrgios, so der Eindruck, hatte eine lange Nacht hinter sich. Oder war es eher eine schwierige Zeit..?

Zwischen Genie und Wahnsinn

Sein Match gegen Maximilian Marterer begann Kyrgios mit Aufschlägen, die 215, 203 und 209 km/h erreichten. Den ersten Frontal-Tweener setzte er beim vierten Punkt des Matches an. Ein paar Ballwechsel später schwang er Nadal-artige Vorhände über der Schlag-Schulter aus und verharrte jeweils kurz in dieser Position. Den Seitenwechsel nach dem 3:2 verbrachte er damit, sich die Stirnfalte zwischen den Augen wegzumassieren, was freilich nicht gelang, weil er kurz später wieder mürrisch auf seine Seite trottete.

Wieder ein Service-Game später zimmerte er einen Aufschlag Henri-Leconte-mäßig im Aufsteigen hinüber, also noch schneller als ohnehin schon, kurz später gab's eine Federer-Aufschlagimitation, ohne groß Aufhebens darum. Jeder Schlag anders: Es ist Fluch und Segen zugleich bei den größten Talenten, in einem Sport, in dem doch eigentlich die stetige Wiederholung für Sicherheit, für Konstanz sorgen soll.

Die versuchte auf der anderen Seite Maximilian Marterer anzubringen, es gelang ihm meist, nur beim 4:5 war er kurz unkonzentriert. Kyrgios gewann Satz eins, und er schien selbst nicht zu wissen, wie er das bloß angestellt hatte. Kyrgios, um beim Schul-Vergleich zu bleiben, wirkte wie ein Schüler, der sich gerade seinen Mathe-Test abgeholt hat, mit einer wirklich komplett unerwarteten Eins drauf. Und der nun irritiert auf seinen Platz zurückwankte.

Mr. Hyde steht auf dem Court

Wirklich Lust versprühte er im Anschluss trotz der Eins nicht.

Als er Marterers ersten Breakball in Satz zwei mit knapp 200 Sachen beim zweiten Aufschlag abgewehrt hatte, drosch er einen Ball in die Bande hinter sich und murmelte: "What's the point?" Alles sei "annoying", langweilig, brabbelte er weiter, ohnehin schien er das gesamte Match in Selbstgespräche und Kopfschütteln vertieft.

Zum Ende des zweiten Durchgangs entschied er, gar nicht mehr zu unterscheiden zwischen erstem und zweiten Aufschlag, was dem guten Marterer mehr oder weniger den Satzausgleich einbrachte. Kurz vorm entscheidenden Break in Satz drei saß der Frontal-Tweener dann, der natürlich völlig ohne Not geschlagen war, denn ein einfacher, sicherer Vorhand-Passierball hätte es auch getan.

Dr. Jekyll nach dem Match

Szenenwechsel, Pressekonferenz, nur zehn Minuten nach dem Matchball. Kyrgios, Mimik: hierauf noch weniger Lust, lässt seine Tasche und Schuhe mitten im Weg fallen - und als man sich schon auf eine Presserunde im Sinne von Bernard Tomic gefasst macht (der es in Paris auf ganze 64 Wörter bei 10 Fragen brachte), überrascht Kyrgios mit ausführlichen und offenen Antworten.

"Ehrlich gesagt, habe ich heute schrecklich gespielt. Ich habe okay aufgeschlagen, das hat mich vermutlich im Match gehalten. Sonst habe ich nichts hinbekommen. Mein Ellenbogen fühlt sich gut an nach der Pause, das ist das Positive. Es ist ja zweieinhalb Monate her, dass ich mein letztes Einzel gespielt habe. Ich habe mich nicht gut gefühlt, das war aber zu erwarten. Hoffentlich wird das morgen besser. Aber ja, heute was es eher Durchschnitt."

Kyrgios schien nun, auch wenn man es absolut nicht in seinem Gesicht erkennen konnte, besser drauf als auf dem Platz. "Das Turnier ist großartig. Und natürlich freue ich mich, mein erstes Match gewonnen zu haben. Gewinnen ist besser als verlieren, das Selbstvertrauen nehme ich mit."

Nach dem tollen Start ins Jahr sei alles "ein Durcheinander" gewesen, dann habe er sich verletzt. "Die letzten drei Monate waren brutal. Ich konnte nicht mal nach Hause, weil dort keiner zum Trainieren war. Ich musste zu Turnieren, ohne spielen zu können. Und von zu Hause weg zu sein, ohne spielen zu können, ergibt keinen Sinn", so der Mann aus Canberra, der so heimatverbunden, heimatliebend und heimat-brauchend ist wie wenige andere Spieler.

Lob für Kollege Marterer

Für seinen Gegner, den frustrierten Maxi Marterer, gab's auch nur gute Worte. "Ich habe mit ihm bei den Junioren gespielt. In Paris war er großartig. Er wird sehr sehr gut werden. In den kommenden Jahren wird er eine ernsthafte Gefahr sein." Und als ob dem noch nicht genug wäre: "Er wird eine massive Karriere hinlegen. Er ist erst 22. Er wird sehr gut werden. Er ist ja schon gut."

Und dann gibt Kyrgios, der an diesem Tag so planlos, so ziellos, so verloren wirkte, obwohl er doch von allen als größtes Talent im Tennis gepriesen wird, noch ein Ziel aus. Was er in Wimbledon, wo er 2014 Rafael Nadal geschlagen und erstmals die große Bühne für sich entdeckt hatte, in 2018 erreichen wolle, wird er gefragt. Antwort: "Ich spiele dort, weil ich gewinnen will."

Und nachdem man während seines gesamten Matches über die Gründe für alles spekuliert hat, klärt Kyrgios auf: "Deswegen spiele ich Tennis."

von Florian Goosmann

Donnerstag
14.06.2018, 19:00 Uhr