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"Aufgeben, das ist nicht meine Natur": Unbeugsamer Andy Murray begeistert bei den US Open

Als Andy Murray ein paar Augenblicke nach seinem unwirklichen US Open-Auftaktsieg auf der Pausenbank Platz nahm, blickte man am Dienstagabend nicht einfach nur auf den abgekämpften Grand Slam-Krieger – sondern gleichzeitig auch auf ein ganzes Tennisleben, auf einen Mann, der gern und oft das Unmögliche möglich macht. Und der wie kein zweiter in seiner Branche für die Weiter, Immer Weiter-Mentalität steht.

von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet: 02.09.2020, 11:54 Uhr

Andy Murray
© Getty Images
Andy Murray

Völlig erschöpft, völlig ausgepumpt hockte Murray (33) da, neben ihm stapelten sich mehr als ein Dutzend leerer Wasserflaschen, schweißgetränkte Handtücher lagen ebenso herum wie verbrauchte Rackets. Fast fünf Stunden war er im größten Stadion des Wanderzirkus gegen den flinken Japaner Yoshihito Nishioka umhergerannt, er hatte mit wilder Leidenschaft gefightet, bis die Füße wundgescheuert waren und jeder Schritt „mörderisch weh tat.“

Es wäre ein Leichtes gewesen für ihn, nach zwei verlorenen Auftaktsätzen und mit Breakrückstand im dritten Durchgang innerlich das Handtuch zu schmeißen, aber Murray ist eben Murray. „Aufgeben, das ist nicht meine Natur“, sagte der unverwüstliche Schotte später, nach seinem denkwürdigen 4:6, 4:6, 7:6 (7:5), 7:6 (7:4), 6:4-Erfolg. Sogar einen Matchball wehrte Murray im vierten Satz eines mitreißenden Houdini-Entfesselungsakts ab, den auch eine Reihe prominenter Kollegen gebannt in der verwaisten Arena verfolgten, darunter Novak Djokovic oder Dominic Thiem.

Andy Murray: Eigentlich schon Tennis-Rentner

Unwillkürlich dachte man bei dieser flirrenden Comeback-Mission an das größere Comeback Murrays zurück, an seine eigentlich verrückte Anwesenheit bei diesem Turnier in New York. Denn vor gut anderthalb Jahren, bei seinem zuvor letzten Major-Einsatz im Januar 2019, standen eigentlich alle Zeichen auf Abschied. Als Murray damals sein Australian-Open-Erstrundenmatch gegen den zähen Spanier Roberto Bautista-Agut verlor, flimmerte anschließend ein „Farewell Andy“-Video über die Bildschirme des Rod Laver-Stadions, in dem prominente Mitstreiter wie Roger Federer, Rafael Nadal oder Djokovic gerührt die Nachrufe anstimmten. Murray hatte einige Tage vorher seinen Rückzug vom Profitennis angekündigt, und Federer hoffte in dem Filmchen damals auf eine tolle Zeit für Murray nach dem Tennis: „Ich bin übrigens Dein größter Fan, Andy.“

Murray: "Hätte nicht erstaunter sein können"

Dann kam alles ganz anders. Es gab kein Leben nach dem Tennis. Es gab ein neues Leben mit dem Tennis, dank einer Operation, bei dem ihm ein Metall-Implantat für die lädierte Hüfte eingesetzt wurde. Murray machte sich auf eine Marathon-Mission zurück in seinen Sport, erst spielte er nur im Doppel, dann, vor ziemlich genau einem Jahr, folgte der erste Einsatz beim Masters in Cincinnati. „Ich hätte selbst nicht erstaunter sein können über diese Sache“, sagt Murray, „damals, in Australien, fühlte sich alles noch so an wie das Ende der Welt für mich.“ Jedenfalls wie das Ende der Tenniswelt.

Im vergangenen November gewann Murray sogar das erste Turnier nach der scheinbar unmöglichen Rückkehr ins Spitzentennis, im grimmigen Antwerpen-Finale bezwang er den Schweizer Stan Wawrinka – genau wie Murray ein dreimaliger Grand-Slam-Champion. Ein „unfassbarer Moment“ sei es gewesen, sagt Murray, jener Braveheart aus Dunblane, den in seiner ganzen Karriere vor allem eins immer auszeichnete: Die trotzige Attitüde, sich letztlich gegen alle Widerstände, Zweifel und auch eigene Ängste durchzusetzen. „Er musste immer kämpfen. Es ist ihm nichts geschenkt worden“, sagt seine Mutter und frühere Trainerin Judy Murray, „auch die Presse und viele Mitspieler haben ihn anfangs verlacht.“

Murray nach dem US-Open-Sieg: "Brauche jetzt ein Eisbad"

Der Spaß ist den meisten Kollegen allerdings schnell vergangen mit Murray. Er gewann drei Majors, holte 2013 den ersten britischen Wimbledonsieg seit Fred Perry. Er wurde zwei Mal Olympiasieger, war die Nummer eins der Welt. Er gehörte einmal zur Elitegruppe der „Big Four“, zusammen mit Federer, Nadal und Djokovic, er war einer der Meister des Tennis-Universums, einer, der gewann, weil er härter und unbarmherziger als alle anderen trainierte. Und nie müde wurde, sich verbessern zu wollen. Es hatte allerdings auch seinen Preis, dieses auszehrende Übungs- und Spielpensum, es zwickte an allen Ecken und Enden bei Murray. Bis ihn die lädierte Hüfte fast zum Aufhören zwang. Aber eben nur fast.

Jetzt ist er immer noch da. Ein Mann, der neun Tennisleben zu haben scheint. Und immer noch jüngere und sehr junge Konkurrenz mit seiner unbeugsamen Willenskraft zermürben kann. Am Dienstagabend hatte Murray zunächst nur einen sehnlichen Wunsch nach dem 278-Minuten-Thriller auf dem Centre Court: „Ich brauche jetzt ein Eisbad. Das ist ein absoluter Notfall.“ Am Donnerstag wird er wieder rennen, beißen, kämpfen. Dann geht es gegen den ambitionierten Kanadier Felix Auger-Aliassime, es könnte wieder eine längere Angelegenheit werden. Murray-like eben.

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von Jörg Allmeroth

Mittwoch
02.09.2020, 11:13 Uhr
zuletzt bearbeitet: 02.09.2020, 11:54 Uhr

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