Graf, Novotna und die royalen Tränen

tennisnet.com blickt zurück auf das denkwürdige Wimbledonfinale der Damen im Jahre 1993.

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 21.11.2017, 09:48 Uhr

Von Christian Albrecht Barschel

Wimbledon zu gewinnen, das ist der große Traum der meisten Tennisspieler und Tennisspielerinnen. Doch nur für eine kleine Anzahl von ihnen geht der Traum vom Wimbledonsieg überhaupt in Erfüllung. "Du kannst nicht als ein großer Spieler in Betracht gezogen werden, wenn du nicht in Wimbledon gewonnen hast", sagte mal Mats Wilander. Dem Schweden fehlt der Titel in Wimbledon in seiner Grand-Slam-Sammlung ebenso wie Ivan Lendl, der 14-mal vergeblich versuchte, auf dem heiligen Rasen zu triumphieren. Auch von Jana Novotna war es immer der große Traum, Wimbledon zu gewinnen. Dieser Traum sollte sich 1993 beinahe erfüllen, als Novotna im Finale auf Steffi Graf traf und schon eine Hand an der Siegerschale hatte. tennisnet.com blickt zurück auf dieses denkwürdige Finale in Wimbledon, das mit royalen Tränen endete.

Am 3. Juli 1993 trafen sich Steffi Graf und Jana Novotna bei herrlichem Sommerwetter, um die Wimbledonsiegerin im 100. Damen-Endspiel im All England Club an der Church Road im Südwesten Londons auszuspielen. Mit Graf, der damaligen Nummer eins der Welt, vierfachen Wimbledonsiegerin und zweifachen Titelverteidigerin war im Endspiel zu rechnen. Und so kam es dann auch. Die 24-jährige Graf zog ohne Satzverlust in ihr sechstes Wimbledonfinale ein. Etwas überraschend war dagegen der Finaleinzug von der Weltranglisten-Neunten Novotna, die zwar gerne auf Rasen spielte, aber zuvor in Wimbledon nie über das Viertelfinale hinausgekommen war. Die 24-jährige Tschechin sorgte im Halbfinale für den Paukenschlag, als sie die neunfache Wimbledonsiegerin Martina Navratilova mit 6:4, 6:4 besiegte.

Klare Rollenverteilung im Finale

Ein Wimbledonfinale war für Novotna allerdings nicht neu. Denn in den Vorjahren hatte die Tschechin bereits reichlich Endspielerfahrung in Wimbledon gesammelt. Im Doppel war sie in vier Finals zweimal sowie einmal im Mixed siegreich gewesen. Nun stand also ihr erstes Einzelfinale auf dem heiligen Rasen bevor. Novotna ging als klare Außenseiterin in das Match mit Graf. Der direkte Vergleich zeigte mit 16:3 eine klare Sprache zugunsten der Deutschen, die Novotna 1987 und 1990 bereits zweimal in Wimbledon klar in zwei Sätzen hatte besiegen können. Die Vorzeichen hätten für die Tschechin also kaum schlechter sein können.

Novotna erwischte im Finale allerdings einen Blitzstart. Sie breakte Graf im ersten Spiel der Partie und baute ihre Führung nach Abwehr eines Breakballs auf 2:0 aus. Graf brauchte etwas Zeit, um in das Finale zu finden. Nachdem Novotna einen Breakball zum 3:0 und mehrere Spielbälle zum 3:1 ungenutzt ließ, war die Deutsche auch dank der Hilfe der Tschechin im Endspiel angekommen. Die Deutsche glich zum 2:2 aus und bestimmte fortan das Tempo. Bei 3:2 vergab Graf jedoch zwei Breakbälle. Es entwickelte sich ein intensives Spiel. Beim Stand von 3:3 zeigte die Uhr bereits 36 Minuten Spielzeit an. Graf schaffte schließlich das Break zum 5:3. Alles schien seinen gewohnten Gang zu nehmen bei einem Match zwischen Graf und Novotna.

Novotna dreht im zweiten Satz auf

Doch bei ihrem Aufschlagspiel zum Satzgewinn verlor die Deutsche ein wenig die Konzentration und war etwas unglücklich über ein paar Entscheidungen der Schieds- und Linienrichter. Novotna breakte zum 5:5, und es ging wenig später in den Tiebreak. Novotna unterlief im Tiebreak bei 1:1 ein Doppelfehler zum ersten Minibreak, das sie aber postwendend egalisieren konnte. Die Tschechin erspielte sich nach einigen sehenswerten Ballwechseln eine 5:3-Führung. Bei 6:5 hatte Novotna einen Satzball, den Graf mit einem Ass abwehren konnte. Nach einem Aufschlag-Winner und einem Rückhand-Passierschlag ging der erste Satz schließlich an die Deutsche. 1:08 Stunden dauerte der erste Satz an, was für das schnelle Spiel auf dem Rasen eine halbe Ewigkeit ist.

Alles schien den gewohnten Gang zugunsten der Favoritin zu nehmen. Doch auch im zweiten Satz erwischte Novotna wie schon im ersten Satz einen Start nach Maß. Sie breakte Graf zur 2:0-Führung. Doch diesmal gab das Break der Tschechin viel mehr Sicherheit. Mit ihrem Offensivtennis brachte sie die spielerischen Fähigkeiten von Graf kaum zur Entfaltung. Nach dem ersten Aufschlag spielte Novotna fast immer Serve-and-Volley und war damit überaus erfolgreich. Graf wurde nun immer unsicherer und verschlug viele leichte Bälle mit ihrer sonst so starken Vorhand. Novotna ging mit 5:0 in Führung und hatte sogar zwei Satzbälle zu einem 6:0 - einem "Bagel" - gegen die Nummer eins der Welt. Der Satz ging schließlich mit 6:1 an die Tschechin. 1:33 Stunden waren zu diesem Zeitpunkt gespielt.

Doppelfehler leitet Wende ein

Novotna hielt ihr Niveau aus dem zweiten Satz bei und brachte Graf immer wieder in Verlegenheit. Die Deutsche konnte zwar mit etwas Mühe ihr erstes Aufschlagspiel halten. Doch beim Stand von 1:1 im dritten Satz setzte Novotna zwei Lobs auf die Linie und nahm Graf das Aufschlagspiel ab. Die Tschechin spielte wie aus einem Guss, attackierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit und war am Netz kaum zu überwinden. Folgerichtig gelang ihr ein zweites Break zum 4:1, auch weil die Deutsche einen Doppelfehler beim Breakball schlug. Spätestens hier rieben sich wohl die meisten Zuschauer verwundert die Augen. Graf, die zweifache Titelverteidigerin und vierfache Siegerin in Wimbledon, stand kurz vor der Finalniederlage. Novotna erspielte sich einen Spielball zu einer 5:1-Führung.

Und hier passierte der Wendepunkt in diesem Match. Ein Punkt, der Graf die Hoffnung zurückgab und Novotna die Konzentration raubte. Die Tschechin schlug beim Spielball einen Doppelfehler. Ironischerweise sagte der englische Kommentator nach dem schön herausgespielten Punkt zum 40:30, dass Novotna bei Momenten wie diesen in der Vergangenheit häufig "gechoket" und das Nervenflattern bekommen hatte, aber es diesmal nicht danach aussah. Novotna, als ob sie die Stimme des Kommentators im Kopf hatte, bekam in der Folge den schweren Arm. Sie servierte beim Spielball ihren zweiten Aufschlag mit vollem Risiko meterweit ins Aus, setzte beim nächsten Punkt einen Volley ebenfalls weit ins Aus und schlug anschließend einen Schmetterball ins Netz. Graf hatte somit ein Break aufgeholt.

Tränen in den Armen der Herzogin

Novotna erspielte sich im darauffolgenden Aufschlagspiel von Graf eine 40:15-Führung und damit zwei Breakbälle zum 5:2. Graf wehrte beide Breakbälle ab, auch weil Novotna einen Volley nicht über das Netz befördern konnte. Graf verkürzte auf 3:4. Der Kommentator erklärte während des Seitenwechsels, dass das nächste Spiel eine Menge über die Tennisspielerin Novotna erzählen würde. Die Tschechin war bei 30:15 erneut nicht allzu weit entfernt von ihrem fünften Spielgewinn im dritten Satz. Doch die Nerven spielten bei Novotna nicht mehr mit. Bei den nächsten vier Punkten unterliefen ihr drei Doppelfehler, sodass sie Graf das Break zum 4:4 förmlich schenkte. Die Deutsche nahm die Geschenke gerne an und brachte ihr anschließendes Aufschlagspiel zu null zu einer 5:4-Führung durch. Novotna, die wenige Minuten zuvor wie die Siegerin aussah, stand nun selbst unter Druck und konnte diesem nicht standhalten. Graf verwandelte ihren ersten Matchball mit einem Schmetterball und gewann zum dritten Mal in Folge und zum insgesamt fünften Mal in Wimbledon.

Bei der Siegerehrung konnte Novotna ihre Enttäuschung über den verschenkten Sieg nicht mehr zurückhalten. Die Herzogin von Kent spendete Novotna bei der Siegerehrung Trost. "Mach dir keine Sorgen, Jana. Ich weiß, dass du es kannst", sagte die Herzogin zur Verliererin, die daraufhin in Tränen ausbrach und sich - entgegen der Etikette in Wimbledon - in die Arme der Herzogin fallen ließ. "Ich habe hier zwei Doppel- und Mixedtitel gewonnen. Deshalb kenne ich die Herzogin etwas. Als sie zu mir kam und sagte, ‚Jana, mach dir keine Sorgen, ich glaube, dass du es schaffen wirst. Ich weiß, dass du Wimbledon gewinnen wirst', konnte ich meine Emotionen nicht mehr zurückhalten und habe sie losgelassen", erklärte Novotna.

"Habe dieses Match Steffi nicht geschenkt"

Graf war natürlich glücklich über den Titel, zeigte aber auch Mitgefühl für die Verliererin. "Ich dachte, ich wäre besiegt. Sie lag mit zwei Breaks vorne und spielte wundervoll, während ich nicht allzu gut spielte. Ich hatte gedacht, dass ich es verlieren würde. Dann hat sie mir ein paar Punkte gegeben. Ich war in den ersten Sekunden sehr glücklich über den Sieg. Dann sah ich sie. Ich war dort auch. Alle Spielerinnen sind dort gewesen, ich habe mit ihr mitgefühlt. Wenn du in dieser Weise vorne liegst, mit 4:1 und Aufschlag, bist du in der Position und musst gewinnen", sagte Graf.

Die meisten Experten sprachen hinterher davon, dass Graf das Finale nicht gewonnen hatte, sondern Novotna das Finale verloren hatte, weil sie den Sieg leichtfertig hergab und Graf somit die Rückkehr ermöglichte. Das wollte Novotna nicht bestätigen und verteidigte sich. "Ich glaube nicht, dass ich Steffi dieses Match geschenkt habe. Ich habe einfach nur ein paar Schläge nicht gemacht. Ich denke, dass ich mit einem besseren Gefühl über meine Spielweise abreise. Jeder spricht davon, dass ich keine Nerven habe, um gegen die Topspieler zu spielen, dass ich ein paar enge Matches verloren habe. Aber ich habe hier in Wimbledon bewiesen, dass ich es kann. Es ist einfach so, dass die Dinge heute nicht gut ausgegangen sind."

Stempel eines "Chokers" haftet an Novotna

Graf sprach davon, dass immer zwei Spieler dazu gehören. "Ich denke nicht, dass jemand dir das Match schenkt, denn du musst bis zum Ende spielen. Du musst jeden Punkt spielen. Sie hat mir einige Punkte gegeben und einige einfache Vorhände verfehlt, aber ich musste immer noch zusätzlich den Ball im Spiel halten, und das ist, was ich getan habe." Novotna erklärte, dass ihre Spielweise auf totale Offensive ausgerichtet war. "Ich hatte von Beginn an entschieden, dass ich auf jeden Punkt gehen muss, weil ich auch mit dieser Spielweise ins Finale gekommen bin. Ich wusste, dass ich es nicht gewinnen kann, wenn ich defensiv spiele. Aber bei diesen Bällen, bin ich voll drauf gegangen. Ich habe an Asse beim zweiten Aufschlag gedacht. Es hat nicht geklappt, und dann hat Steffi ihr Spiel nach oben gehoben und es selbst gewonnen."

Für Novotna kam es beim Wimbledonturnier 1993 noch schlimmer. Denn sie verlor auch das Doppelfinale knapp in drei Sätzen. In den nächsten Jahren haftete an der Tschechin der Stempel eines "Chokers", einer Spielerin, die in den entscheidenden Situationen an ihren Nerven scheiterte. Und Novotna tat auch alles, um dieser Bezeichnung gerecht zu werden. Legendär war ihre Niederlage in der dritten Runde der French Open 1995, als sie gegen Chanda Rubin im dritten Satz mit 5:0 und 40:0 führte, insgesamt neun Matchbälle hatte - und tatsächlich noch verlor. Novotna galt als "ewige Zweite" und die beste Spielerin, die nie ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte.

Novotna nutzt dritte Chance auf Titel

Ihre dritte Chance, ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen, hatte die Tschechin erneut in Wimbledon. Im Endspiel im Jahre 1997 unterlag sie der 16-jährigen Martina Hingis nach gewonnenem ersten Satz und Breakführung im dritten Satz. Ein Jahr später schlug dann endlich die große Stunde von Novotna. Auf dem Weg in ihr drittes Wimbledonfinale bezwang sie im Halbfinale die Weltranglisten-Erste Hingis und traf im Endspiel auf Nathalie Tauziat. So ganz ohne Zittern konnte Novotna es allerdings nicht machen. Als sie zum Matchgewinn servierte, gab sie ihr Aufschlagspiel ab. Doch letztendlich durfte sich Novotna bei ihrer 13. Teilnahme in Wimbledon über ihren ersten und einzigen Grand-Slam-Titel freuen.

"Wimbledon zu gewinnen, bedeutet alles für mich. Das ist, wofür ich so viele Jahre gearbeitet habe. Ein Traum ist für mich wahr geworden", strahlte Novotna nach dem Sieg und nahm die Glückwünsche und den Siegerpokal von der Herzogin von Kent in Empfang. "Sie war sehr erfreut, dass ich diesen Titel gewonnen habe. Sie war sich so sicher und sagte, ‚Ich habe dir letztes Jahr gesagt, wenn du es ein drittes Mal ins Finale schaffst, werden aller guten Dinge drei sein. Und du wirst es schaffen.' Ich habe ihr gesagt, dass sie absolut Recht hatte." Novotna hatte Frieden mit den Wimbledonfinals geschlossen und gewann als zusätzliche Krönung auch noch die Doppelkonkurrenz.

von Christian Albrecht Barschel

Dienstag
21.11.2017, 09:48 Uhr