Warum Dominic Thiem 2020 seinen ersten Grand-Slam-Titel gewann

Der Atem rutschte dem Zuschauer in den Magen, während Dominic Thiem beim 5:5 im fünften Satz zur Vorhand ausholte...

von Marco Kühn
zuletzt bearbeitet: 26.12.2020, 13:59 Uhr

Dominic Thiem feierte bei den US Open 2020 seinen ersten Grand-Slam-Titel
© Getty Images
Dominic Thiem

Er spielte nicht sein bestes Tennis, aber diese Vorhand die Linie entlang saß. Er ackerte, fightete und spielte mit Herz. Seine Spitzenleistung war aber nicht erreicht. Doch bei 5:5 im fünften Satz im Finale der US Open gegen Alexander Zverev begann Dominic Thiem, die entscheidenden Winner auszupacken. Es waren die besten Schläge zum besten Zeitpunkt. Sie waren der Beweis, dass Dominic zu einem echten Champion gereift war.

Etwas Glück gehört immer dazu. Die Reise zum ersten Grand-Slam-Titel war nervenzehrend. Sie zeigte, dass tolle Schläge und eine permanente Entwicklung wichtig sind. Dass zahllose Opfer erbracht werden müssen. Sie zeigte aber auch, dass Tennis nicht nur während, sondern auch zwischen den Ballwechseln, im Kopf, gespielt wird.

Roland Garros im Jahr 2019

0:1. Rafa brachte sein erstes Aufschlagspiel in seinem Wohnzimmer bequem durch. Thiem schlug auf. Der Start in ein so großes Finale ist wichtig. Die Taktik im Kopf. Die Nervosität auf dem Schläger. Lange Rallys von der Grundlinie. Dominic kam gut in diese vor allem mental kräftezehrenden Ballwechsel hinein. Der Klang der Bespannung verriet, dass Thiem die Kugel sauber traf. Bei 30:15 der erste Versuch, den Matador aus seinem Terrain zu locken. Ein Stoppball von Thiem, den Nadal so eben von der Asche kratzen konnte. Der anschließende Rückhand-Passierschlag wurde von Rafa erkannt, er stand beinahe mit dem Bauch am Netz. Nadal ließ die Kugel abtropfen und spielte einen von zahlreichen Volleystopp-Winnern.

Das Publikum sprang auf und applaudierte. Thiem blieb cool. Er ließ sich emotional nicht durchrütteln, sondern spielte sein Spiel weiter. Lange Grundlinienduelle mit peitschenden Treibschlägen, die den Kontrahenten quer über den Platz jagten. Intelligent eingestreute Stopps, um dem Topspin-Wahnsinn im richtigen Moment entkommen zu können. Die geballte Faust mit entschlossenem Blick zur Box. Thiem spielte in diesem Finale großartiges Tennis. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Rafa das Momentum unabdinglich an sich riss.

In einem Tennismatch fiebern wir als Zuschauer während der emotionalen Ballwechsel leidenschaftlich mit. Wir sehen aber nicht die Emotionen, die diese Ballwechsel im Spieler selbst hinterlassen. Ab dem dritten Satz schien es, als hätte Nadal das emotionale Spiel gewonnen. Bei Dominic wich der Glaube zunächst der Hoffnung. Nachdem Nadal weitere Volleystopps erfolgreich platzieren konnte und seine Fehlerquote dramatisch reduzierte, schien mit fortschreitender Matchdauer Thiem auch die Hoffnung zu verlieren.

Die meisten Spieler kommen gegen Rafael Nadal in Roland Garros erst gar nicht so weit. Auch wenn es Dominic in diesem Match auf dem Court noch nicht fühlen konnte. Das Match zeigte, dass er bereits eine Hand an der Trophäe eines Grand-Slams hatte.

Flushing Meadows im Jahr 2020

0:0. Als vermeintlicher Favorit spielt sich ein solches Finale anders. Der Slice-Aufschlag bei 15:15 im ersten Aufschlagspiel flog recht weit ins Aus. Der Blick verriet volle Konzentration, trotz starker Anspannung. Der Schwung bei der Vorhand schien gebremst, nicht so locker wie gewohnt. Immer mal wieder wurde die Rückhand als Slice gespielt. War es Taktik, aufgrund der Körpergröße des Gegners? Oder das Resultat von enormer Nervosität? Die Wahrheit findet man wahrscheinlich in der Mitte.

Und dann geschah das, was zuvor kaum wer geahnt hatte. Zverev trifft nicht nur viele erste Aufschläge, sondern im Ballwechsel auch jede Ecke des Platzes. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, schlurfte Zverev von Winner zu Winner. Dominic muss innerlich getobt haben, blieb äußerlich jedoch besonnen. Dieses Spielchen lief unaufgeregt bis zum 6:2, 6:4 und 2:1 aus der Sicht des Hünen mit den Halsketten. Wie im Jahr zuvor in Roland Garros sollte der dritte Satz das emotionale Spiel in den Vordergrund schieben. Bei 2:1 und Aufschlag Zverev versiebt Thiem zunächst mehrere Breakchancen, um schlussendlich doch das Break zu schaffen.

Bei Dominic wich der Hoffnung nun dem Glauben. Sein bestes Tennis spielte Thiem nicht. Doch seine hohe Frustrationstoleranz und die emotionale Kontrolle hielten ihn so lange im Spiel, bis er die Chancen bekam, auf die er lauerte. Es mag Spieler geben, die sich an Stelle von Thiem über ihr Niveau bei sich selbst beschwert hätten. Diese Spieler hätten den Faden und das Match verloren. Thiem fluchte nach einem Ballwechsel, in dem er fast nur Rückhand-Slice spielte. Doch er tat dies, um im nächsten wichtigen Ballwechsel mit einem klaren Kopf agieren zu können. Er hatte gelernt, Ballwechsel abzuhaken, seine Emotionen zu kontrollieren und an sich zu glauben. Auch dann, wenn die spektakuläre Vorhand mal nicht kommt.

Eine starke Vorhand gewinnt Matches, der Charakter die großen Titel

Wir durften in den letzten Jahren zuschauen, wie Dominic Thiem zu einem Champion wurde. Wir durften lernen, dass großartige Schläge wichtig sind, um in Halbfinals und Finals zu stürmen. Wir durften auch lernen, dass in großen Matches unzählige Faktoren hinzukommen, die sich im Kopf abspielen.

Dominic Thiem gewann in diesem Jahr seinen ersten großen Titel, weil er spielerisch sowie charakterlich ein Champion ist. Er kann nicht nur die Vorhand-Cross mit mörderischem Tempo über das Netz prügeln. Er kann leichte Fehler abhaken und ist sich selbst auf dem Court ein Freund, kein Feind.

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