Andre Agassi zum 50. Geburtstag: Paradiesvogel, Popstar, Paradeprofi
Kaum einer hat im Verlaufe seiner Karriere eine solche Wandlung durchgemacht wie Andre Agassi. Ein Mann, der das Tennis erst hasste und mit Neon-Farben und Jeans-Shorts aufmischte - und am Ende zum Vorzeigeprofi wurde.
von Jörg Allmeroth
zuletzt bearbeitet:
29.04.2020, 14:07 Uhr

Es war im Frühling vor zwei Jahren, als Andre Agassi daheim in Las Vegas auf sein Leben zurückblickte. Und in kleiner Gesprächsrunde auf die „beiden größten Siege“ schaute, die er errungen habe, Siege jenseits der Bühne, die ihn zum Weltstar aufsteigen ließ, zu einem der bekanntesten, gelegentlich auch umstrittensten Sportler seiner Zeit. „Ich habe ein Leben neben dem Tennis gefunden. Ich habe einen Traum erfüllt“, nämlich den, anderen Menschen, denen es nicht so gut geht, helfen zu können“, sagte Agassi und spielte auf seine Stiftungsaktivitäten an, auf den Bau von Schulen und Kindergärten in seiner Heimatstadt Las Vegas und in ganz Amerika mit Dutzenden Millionen Dollar.
Und dann, Sieg Nummer zwei, über den er nachschob, Sieg sei vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Pathos ist Agassi nicht fremd, und so erklärte er, „Erfüllung des Schicksals“ sei vielleicht treffender für seine „wunderbare Ehe“ mit Steffi Graf, „der Frau, die so perfekt zu mir passt, wie man nur perfekt zusammenpassen kann.“ Agassi lächelte sein typisches Buddha-Lächeln und sagte: „Sie sehen einen glücklichen Menschen vor sich.“
Das neue Agassi-Leben ist ein Graf-Leben
Am Mittwoch wird Agassi 50 Jahre alt. Ein Mann, bei dem man lange nicht wusste, woran man mit ihm ist. Und dessen Faszination sich genau aus diesem Umstand speiste, übrigens ganz ähnlich wie bei seinem langjährigen Erzfeind Boris Becker. Auch jetzt, nach einem halben Hundert Lebensjahren, ist die Verblüffung noch nicht gewichen, nun aber, weil Agassi ein so zurückgezogenes, eher stilles Leben führt, wie es in Zeiten seiner wildbewegten aktiven Karriere gänzlich undenkbar schien. Agassis Leben ist eher ein Graf-Leben geworden, ein Leben, das seiner Ehefrau entspricht – ohne viele Schlagzeilen, ohne Seite 1-Präsenz, ohne Meinungsäußerung zu diesem oder jenen Thema. Stattdessen lässt Agassi weiter Taten sprechen als Wohltäter, der sich um benachteiligte Kinder und Teenager kümmert – und damit in Zeiten wie der Corona-Pandemie mehr denn je gefragt ist.
In den vergangenen Jahren war Agassi sporadisch wieder im Tenniszirkus aufgetaucht, aber so wirklich nachhaltig war sein Engagement nie. Bald beendete der Amerikaner sein Engagement beim Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic wieder, die Ansprüche, die der hochehrgeizige Serbe an einen Topberater stellte, wollte und konnte Agassi nicht erfüllen. Auch die Liaison mit dem sehr talentierten Bulgaren Grigor Dimitrov währte nicht lange, Agassi bekannte später, weniger er selbst habe hinter den beruflichen Aktivitäten gesteckt als seine Ehefrau: „Steffi hat mich fast ein bisschen gedrängt, das anzunehmen. Weil ich mich vielleicht langweilen könnte sonst.“ Eins, in der Tat, erkannte man auch bei Agassis Wiedererscheinen im Wanderzirkus: Er war rundlich geworden, mit kräftigem Bauchansatz, vielleicht auch den Schmerzmitteln geschuldet, die er gegen seine heftigen, chronischen Rückenschmerzen einzunehmen hatte.
Agassi: Letztes Match gegen B. Becker
2006 hatte er sich mit schlimmen Schmerzen auch zu seinem letzten Hurra geschleppt, bei den US Open in New York. Es war ein beinahe bizarrer Auftritt, vor einem seiner Spiele konnte man beobachten, wie Agassi auf einem Betonflur vor dem Eingang zum Centre Court auf der Erde lag, weil das Stehen zu sehr schmerzte. Immer wieder verabreichten ihm die Ärzte schmerzstillende Spritzen. Am Ende war die allerletzte Partie, verloren gegen einen gewissen Benjamin Becker aus Merzig, auch eine Erleichterung. Es war vorbei, ein Tennis-Leben ohne Beispiel, eine Karriere der Extravaganzen, eine abenteuerliche Reise.
Agassi war, wie vor ihm Björn Borg oder McEnroe, wie mit ihm Boris Becker und wie nach ihm Roger Federer oder Rafael Nadal, größer als sein Sport selbst. Seit seinem ersten Auftauchen im August 1986, bei den US Open, ließ er niemanden kalt, zwischen glühender Verehrung und tiefer Verachtung lag lange, lange Zeit Niemandsland. Bevor er in den letzten Jahren seiner Karriere flächendeckende Anerkennung für seine späte Leistungsoffensive fand, wurde er geliebt und verschmäht, bewundert und beschimpft – jener Agassi, der einst als Werbefigur mit dem Slogan „Image is everything“ unterwegs gewesen war.
Es gab nie nur den einen Agassi. Es gab ganz viele Agassis. Und es gab vor allem einen Agassi, den man überhaupt nicht kannte, bevor er er in seiner aufsehenerregenden Biographie „Open“ buchstäblich schonungslos offen über sein Leben sprach. Und nicht zuletzt bekannte, er habe Tennis „gehasst“, auch wegen des ewigen Leistungsdrucks, den sein Vater Mike auf ihn ausgeübt habe. In jenem Buch gab es eine weitere, noch viel schockierendere Enthüllung, nämlich die, dass Agassi sich in einer tiefen Lebens- und Tenniskrise illegal auch mit Crystal Meth vollgepumpt hatte, um der tristen Realität jener Tage zu entfliehen. Die Tennis-Autoritäten, das schimmerte dabei durch, hätten den Skandal zu verwischen versucht.
Wimbledon-Sieg 1992: "Stunde, in der ich Tennisspieler geworden bin"
Langweilig wurde es einem ansonsten nie mit dem Burschen aus der Glitzermetropole, der Spieler-Hölle Las Vegas. Einem Mann, der ungezählte Brüche in seiner Karriere erlebte, der voller Widersprüchlichkeiten war, der zwischen Sein und Schein umherschwankte. Und der deshalb umso vieles anziehender war als viele seiner geradlinigen, linientreuen Mitstreiter, insbesondere Pete Sampras, der ewige Spielverderber Agassis. Dass Agassi, im Grunde seines Herzens ein eher schüchterner, zweifelnder Typ, nicht schon früh an den Härten der Branche scheiterte, war seinem überraschenden Wimbledonerfolg 1992 zu verdanken. „Das war die Stunde, in der ich eigentlich als Tennisspieler geboren worden bin“, sagt Agassi. Um es genauer zu sagen: Es war die Geburtsstunde des Profis Agassi, der sich zuvor beispielsweise den erstaunlichen Luxus geleistet hatte, einige Jahre wegen der verstaubten Sitten nicht in Wimbledon zu spielen. Oder der es scheute, die zu aufwändige Reise nach Australien zum dortigen Grand-Slam-Turnier anzutreten.
Später siegte Agassi genau dort, in Australien, am häufigsten in einer Karriere, die nach dem epischen French Open-Sieg 1999 in eine geradezu sagenhafte Verlängerung ging. Paris, der Frühling vor 21 Jahren, es war sozusagen die Wiedergeburt Agassis, nach einer Krise, die ihn bis auf Platz 141 der Weltrangliste gespült und ihm Beschreibungen wie „Burger King of Tennis“ eingebracht hatte. Nach dem Roland-Garros-Triumph war er plötzlich wieder die Nummer 1. Und er war auch dies: Der neue Lebensgefährte von Stefanie Graf, die rasch seine Ehefrau werden sollte, die Mutter der beiden Kinder Jaden Gil und Jaz Elle.
Agassi: Vom Kultstar zum Asket
Jenseits seines 30. Geburtstages erlebte er eine Blütezeit, nun mit kahlgeschorenem Schädel, eiserner Fitness, beinahe asketischer Lebensweise. Und mit Frau Graf an der Seite, die ihm auch mit manchem sportlichen Ratschlag half. „Wir haben eine große Harmonie und Geistesverwandtschaft“, sagte Agassi damals. Verblasst waren die Zeiten, in denen er als Paradiesvogel und beliebiger Popstar der Branche durch die Welt zog, als Protagonist von „Rebel Tennis“, mit blond eingefärbten Haaren, Schlabbershirt, Jeanshose. An jenen schrillen, lauten, kunterbunten Agassi erinnerte gerade noch einmal Boris Becker, mit dem Eingeständnis, er habe „nicht viel“ mit ihm anfangen können. Was noch eine riesige Untertreibung war.
Becker, der die Öffentlichkeit braucht wie die Motten das Licht, sprach in seiner Gratulationsadresse auch davon, er wünsche sich mehr Präsenz von Agassi im Tennis dieser Tage. Dieser Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Agassi wird sich auch künftig eher nicht ins Heer der Berater, Experten, Kommentatoren einreihen. Er hat dem Tennis zwar sehr, sehr viel zu verdanken. Aber er schuldet dem Tennis in keinster Weise noch irgendetwas.
